Athens Epidaurus Festival / Theater Pallas
Simon Stone: Medea
Besuchte Vorstellung am 10. Juli 2024
Eine amerikanische Familientragödie
Copyright: Sanne Peper
Der Theaterautor und Regisseur Simon Stone hat im zurückliegenden Jahrzehnt die grossen Häuser im deutschsprachigen Raum (und darüber hinaus) erobert. Er hat erfolgreich im Schauspiel- und Opernbereich gearbeitet, seine Arbeiten wurden vielfach ausgezeichnet. Stones Neuschreibungen klassischer Dramen haben ihn einem grösseren Publikum bekannt gemacht. Seine auf Ibsen, Tschechow oder Strindberg basierten Texte haben die Aktualität vorhandener Theaterliteratur in neues Licht gerückt. Als Autor und Regisseur hat er den alten Dramenstrukturen neues, zeitgenössisches Leben eingehaucht. Das Athens Epidaurus Festival zeigt nun mit „Medea“ eine ältere Arbeit von Stone, die am Internationaal Theater Amsterdam herauskam.
Simon Stones Stück basiert auf Euripides „Medea“. Es ist eine der häufig gespielten griechischen Tragödien, deren Hauptfigur bis heute nichts von ihrer Faszination eingebüsst hat. Die zentrale Frage lautet wohl: Was bringt eine Mutter dazu, ihre beide Kinder zu töten? Und: Wie viel Erniedrigung und Zurückweisung muss die Königstochter aus Kolchis in Korinth erfahren haben, um dieser Tat fähig zu sein? Jasons Hinwendung zu einer anderen Frau, Medeas Leben in der Fremde liefern Gründe. Doch reichen diese aus, die Wahnsinnstat zu erklären. Simon Stone hat sich auf die Suche nach Spuren der mythischen Medea im Heute gemacht. Und er ist fündig geworden.
Copyright: Dim Balsern
Medea, die hier Anna heisst, kommt nach einem längeren Aufenthalt in einer psychiatrischen Anstalt zu Mann und Kindern zurück. Die betrogene Ehefrau hatte zuvor versucht, den Gatten zu vergiften. Die Handlung spielt im Umfeld eines multinationalen Konzerns in den USA. Anna hat ihren Assistenten geheiratet, ihn gross gemacht und ihre Karriere der beiden Söhne wegen aufgegeben. Als sich ihr Mann der Tochter des Konzernchefs zuwendet, sieht sie ihre Existenzgrundlage zerstört. Der Versuch der psychisch Beeinträchtigten, den Ehemann nach ihrer Rückkehr aus der Anstalt zurückzugewinnen, scheitert. Am Ende der Geschichte, die auch von realen Ereignissen inspiriert ist, steht die blanke Zerstörungswut. Anna tötet die Rivalin, deren Vater, ihre Söhne und sich selbst. Die Übertragung des Mythos in die Gegenwart und die Konstruktion der Handlung gelingen bestens. In 75 spannungsreichen Minuten entfaltet sich ein Geschehen, das bewundernswert vielschichtig Medea unter der erzählerischen Oberfläche aufscheinen lässt. Die letzten Monologe von Anna und der Sozialarbeiterin, in denen die Gewaltakte geschildert werden, kommen wie Botenberichte daher.
Simon Stone siedelt das Geschehen in einem weissen Raum an (Bühnenbild: Bob Cousins), in welchen sich Figuren und Handlung zeichenhaft einschreiben. Wenn Annas Gewaltausbrüche beginnen, kommt ein Haufen Asche hinzu. Die minimalistische Ausstattung überzeugt. In diesem Setting erzählt der Regisseur Stone sehr flüssig seine „Medea“, die als Konversationsstück beginnt und als Tragödie endet. Video kommt teilweise zum Einsatz, manche Szenen überlappen sich. Stone breitet die Handlung energiegeladen vor dem Publikum aus. Beinahe atemlos, einem Film gleich – und das Sounddesign von Stefan Gregory unterstreicht das – steuert das Geschehen auf das tragische Ende zu. Es ist eine beeindruckende Inszenierung, in der jedes Detail sitzt.
Simon Stones „Medea“ ist auch tolles Schauspielertheater. Und das Internationaal Theater Amsterdam bringt ein ausgezeichnetes Ensemble auf die Bühne. Es wird angeführt von der wunderbaren Marieke Heebink als Anna, die den komplexen, gespaltenen Charakter der Hauptfigur eindringlich verkörpert. In weiteren Rollen treten auf: Alexander Elmecky, Bart Slegers, Eva Heijnen, Evgenia Brendes, Leon Voorberg, Mente Wijsman und Fedy Bakker. Das Gastspiel aus Amsterdam beschert Athen einen grossartigen Theaterabend.
Das Publikum zeigt sich sehr angetan von der Aufführung und spendet am Schluss starken, mit Bravorufen durchsetzten Beifall.
Ingo Starz (Athen)