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ATHEN/ Athens Epidaurus Festival / Peiraios 260: PARALLAX von Kornél Mundruczó. Brüchige Identitäten

15.07.2024 | Theater

Athens Epidaurus Festival / Peiraios 260

Parallax
Besuchte Vorstellung am 14. Juli 2024

mungr
Copyright: Athens Epidaurus Festival

Brüchige Identitäten

Kornél Mundruczó gehört zu den regelmässigen Gästen an internationalen Theaterfestivals. Auch dem Publikum des Athens Epidaurus Festivals ist er seit einigen Jahren bekannt. Der ungarische Regisseur gründete 2009 zusammen mit der Produzentin Dóra Büki die unabhängige Theatercompany Proton Theatre. Mit Adaptionen von Werken bekannter Autoren wie W. Sorokin oder J.M. Coetzee machte er sich schnell einen Namen. Seit 2003 inszeniert Mundruczó auch Opern. Im selben Jahr debütierte er als Filmregisseur am Cannes Filmfestival. Weitere Filme folgten, 2014 gewann sein Spielfilm „White God“ den Hauptpreis in der Kategorie Un Certain Regard in Cannes. Das Medium Film spielt auch in seinen Theaterarbeiten eine gewichtige Rolle. Dies betrifft den Einsatz von Video auf der Bühne, aber auch die Erzählweise. Nun bringt das Athens Epidaurus Festival als Koproduzent Kornél Mundruczós „Parallax“ auf die Bühne. Kata Wéber hat zusammen mit dem Team den Text des Stücks erarbeitet.

Die neueste Arbeit des Regisseurs zeigt drei Generationen einer Familie in einer kleinen Wohnung in Budapest. Es ist das Jahr 2013: Da ist die Großmutter, die Unwillen zeigt, eine Auszeichnung als Überlebende des Holocaust anzunehmen, und die Tochter, die viel Bürokratie auf sich nimmt, um einen Nachweis ihrer jüdischen Identität zu bekommen. Sie möchte ihrem Sohn einen Schulplatz in der neuen Heimat Berlin sichern. Dann springt die Handlung in die Gegenwart. Der erwachsene Sohn, der auf der Suche nach seiner Identität als Schwuler ist, kehrt zur Beerdigung  seiner Grossmutter in deren Wohnung zurück. Es kommt dort zu einer Sexparty – was dem Gefühl von Einsamkeit entsprang, wie er seiner am nächsten Morgen eintreffenden Mutter erklärt. Den drei Familienmitgliedern stellen sich die gleichen Fragen nach Identität und Zuschreibung. Es hängt vom Blickwinkel ab, wo jemand verortet ist. Mit „Parallax“ – der Begriff bezeichnet die scheinbare Änderung der Position eines Objekts bei verschiedenen Blickwinkeln – präsentieren Kornél Mundruczó und sein Team eine Familiengeschichte vor dem Hintergrund jüngster europäischer Geschichte und ungarischer Gegenwart. 

Daa Bühnenbild von Monika Pormale zeigt eine enge Wohnung, ein Wohnzimmer mit Küche. Wandflächen auf beiden Seiten, die Platz für Projektionen und Untertitel bieten, begrenzen die Spielfläche. Die Wohnung der Grossmutter, einer pensionierten Museumsdirektorin, ist angefüllt mit Gegenständen und Erinnerungsstücken. Die Figuren des Stücks bewegen sich in gelebtem Leben, einem Leben dem man auch ausgesetzt ist und schwer entkommen kann. Die Live-Kamera fokussiert im ersten Teil, der der Grossmutter Éva gewidmet ist, ganz auf die beiden Figuren, Mutter und Tochter, auf deren Porträts. Das hat wohl auch mit dem Thema des Jüdischseins zu tun und der Tatsache, das es sich quasi um eine Rückblende handelt. Ganz anders ist die Szene im zweiten Teil, in dem es um den heimgekehrten Jónás geht. Hier schaut das Publikum ganz direkt auf eine ziemlich explizit dargestellte Sexorgie. Da kommt das pralle Leben in die abgelebte Wohnung. Der letzte Teil über die Mutter Léna fällt vergleichsweise kurz aus. Der Gang zur Beerdigung beendet die Handlung. Für den Umstand, dass die Familie der Geschichte, der Erfahrung des Holocaust nicht entfliehen kann, hat Mundruczó starke Bilder und Sound gefunden. György Ligetis „Requiem“ bricht wiederholt verstörend in die Lebenswelt ein. Rauch aus der Mikrowelle lässt Böses ahnen, was eindringlich manifest wird, wenn nach der Sexszene Jónás in der kleinen Wohnung von Wasserfluten heimgesucht wird. Die Vergangenheit ist präsent. 

Es ist ein Abend der persönlichen Geschichten, der Lebensdetails. Lili Monori als Éva, Emőke Kiss-Végh als Léna und Erik Major als Jónás zeigen starke Leistungen in den Hauptrollen. Überzeugend sind auch die Spielgefährten von Jónás im zweiten Teil besetzt: Roland Rába als Márk, Sándor Zsótér als László, Csaba Molnár als Gábor und Soma Boronkay als Kornél. Boronkay und Stefanie Carp haben, und man sieht mit Erfolg, an der Dramaturgie von „Parallax“ gearbeitet. Dem Team um Kornél Mundruczó gelingt ein vielschichtiger, berührender Theaterabend. Das Publikum spendet starken Beifall und vereinzelte Bravorufe. 

 

Ingo Starz (Athen)

 

 

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