Athens Epidaurus Festival / Peiraios 260
Miet Warlop: Inhale Delirium Exhale
Besuchte Vorstellung am 7. Juli 2025
Tuchbahnen wie Sturzbäche
Foto: Reinout jpg.
Manchmal ist es gut, mit der Schilderung einer starken Szene zu beginnen, einer Szene, die an diesem Tanzabend am deutlichsten als tänzerische Bewegung zu lesen ist. Diese Szene zeigt einen Tänzer in einer pirouettenartigen Bewegung. Die kreisförmige Bewegung, bei der das rechte Bein über die Horizontale geführt wird, erfüllt hier einen sozusagen praktischen Zweck. Sie dient nämlich dazu, eine lange Tuchbahn um das linke Bein aufzuwickeln. Der menschliche Körper und das helle Tuch sind in einer mechanischen Bewegung vereint, der Tänzer Mutter zum Apparat. Das ist es wohl, was die Choreografin Miet Warlop in ihrer neuesten Arbeit „Inhale Delirium Exhale„, die vom Athens Epidaurus Festival koproduziert wurde, angetrieben hat: Zwei Materialitäten zusammenzubringen und interagieren zu lassen, Anmutungen von Maschinenprozessen zu schaffen. Dafür bringt sie fünf Performer und 1500 Meter Tuch auf die Bühne. Ein imposantes Unterfangen, möchte man sagen.
Und imposant beginnt der Abend auch. Von Bühnenstegen herabfallende Tuchballen, herunterstürzende Tuchbahnen verursachen verstärkt von ausgefeiltem Bühnensound (Ditten Lerooij) für einiges Getöse, füllen den Bühnenboden und liefern die Spielvorlage für das weitere Geschehen das von der Musik von DEEWEE begleitet wird. Die fünf Performerinnen und Performer greifen zum Tuch und demonstrieren, was sich damit machen lässt. Der Betrachter sieht, wie Stoffe an Maschinenzylindern aufgerollt werden, wie Menschenkörper unter Tuch verschwinden und sich beinahe skulpturale Knäuel bilden. Stoffe werden ausgebreitet, geschwenkt und in den Zuschauerraum hineingezogen. An anderer Stelle werden Erinnerungen wach an den frühen Ausdruckstanz: Körper hinter von Windmaschinen bewegtem Tuch erinnern an den Serpentinentanz einer Loïe Fuller. Herabhängende Metallzylinder werden in Bewegung gesetzt und zum Klingen gebracht, eine Musikmaschine sozusagen. Der im weiteren Verlauf mit Wasser besprengte Bühnenboden wird mit Tüchern aufgewischt, die anschliessend im Hintergrund aufgehängt werden. Und ganz am Schluss ziehen sich verschiedenfarbige Stoffbahnen unter den schwarzen Oberteilen der Akteure hindurch, Tuch und Körper zu einem skulpturalem Momentum verbindend.
Miet Warlop hat für die Ausstattung mit Mattis Clement und Elias Demuynck zusammengearbeitet. Die verschiedenenfarbigen Tuchbahnen füllen den Bühnenraum, ja gegen ihm ein bestimmtes Gepräge. Ein paar interessante Bilder machen aber noch keinen spannenden Tanzabend. Im Vorfeld konnte man davon lesen, dass sich Warlop in ihrer Arbeit mit Individualität und Gruppe, gar mit dem Chor der antiken Tragödie auseinandersetzen wolle. Diese Aspekte kommen einem beim Betrachten nicht wirklich in den Sinn. Das Bedrohliche, Ängste heraufbeschwörende, von dem in einer Ankündigung die Rede ist, kann man hingegen festmachen: Die auf dem Boden aufprallenden Stoffbahnen hören sich wie Einschläge eines nahenden Kriegs an. Ansonst herrscht aber der Eindruck einer Spielsituation vor, die um die Frage zu kreisen scheint: Wie lassen sich Unmengen von Tuch mit Menschenhand und -körper bildschaffend im Raum bewegen? Die Performer MLara Chedraoui, Mattis Clement, Margarida Ramalhete, Milan Schudel und Emiel Vandenberghe geben in dieser Hinsicht ihr Bestes. Ein Delirium lässt sich bei alledem nicht ausmachen.
Das Publikum reagiert stellenweise amüsiert, aber zunehmend ratlos auf die Darbietung. Am Schluss gibt es freundlichen Beifall. Ein paar Zuschauer zeigen sich enthusiastisch.
Ingo Starz (Athen)