Athens Epidaurus Festival / Peiraios 260: Jérôme Bel: Isadora Duncan
Besuchte Vorstellung am 10. Juli 2023
Tanzstunde mit Isadora
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Ihre Auftritte begeisterten das Tanzpublikum im frühen 20. Jahrhundert. Schriftsteller und bildende Künstler folgten mit gespanntem Interesse ihren Tanzdarbietungen. Isadora Duncan war ein Star und eine Wegbereiterin des modernen Tanzes. Ihr Ausdruckstanz folgte einem Vokabular künstlerisch beglaubigter Gebärden. Sie liess sich von der griechischen Antike und der Natur anregen, sie wollte in Abwendung vom klassischen Ballett zurück zur Natur. Dabei stand inmer auch der Gedanke im Hintergrund, dass ihre Zeitgenossen durch Tanzunterricht zu besseren Menschen erzogen werden können. Isadora Duncan war ganz Kind einer Zeit, welche durch vielfältige Lebensreformbewegungen geprägt war. Ihr Ausdruckstanz kann als eine ekstatische Feier des Lebens verstanden werden. Jérôme Bel, der sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten bereits mit verschiedenen Tanzbiographien auf der Bühne auseinandergesetzt hat, nimmt sich nun zusammen mit der 72-jährigen Tänzerin Elisabeth Schwartz Leben und Werk der Tanzpionierin an. Er sitzt am Laptop, berichtet und spielt Musik ein, sie tanzt ausgewählte Arbeiten von Duncan.
Jérôme Bel hat gründlich recherchiert und beschränkt sich in kluger Weise auf wenige entscheidende Momente im Leben der Tänzerin und Choreografin. Elisabeth Schwartz beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit dem Werk von Isadora Duncan. Den Anstoss dazu gab ihr die Begegnung mit einer der Ziehtöchter, die noch in hohem Alter Duncans Tänze zur Aufführung brachte. Schwartz führt nun diese orale Tradition fort und hält so Tanzerbe am Leben. Und wie die Pionierin unterrichtet sie andere. Bel bringt gekonnt eine Dramaturgie auf die Bühne, welche den Zusammenhang von bestimmten Tänzen mit biographischen Fakten berücksichtigt und das Gebärdenrepertoire durch Tanzwiederholung ohne Musik mit Worten erklärt. Durch Einladung von Zuschauern auf die Bühne und deren Unterrichten in einem kurzen Tanzstück macht er auch den pädagogischen Aspekt von Isadora Duncans Schaffen deutlich. Der Abend beginnt mit sanften, fliessenden Bewegungen zu Musik von Schubert und Chopin. In den frühen 1920er Jahren lernt die Tänzerin Russland und den Bolschewismus kennen. Die Lebensreformerin entpuppt sich in einem „revolutionär“ genannten Stück von 1921 als politische Kämpferin. Ihre Idee vom neuen Menschen gerät nun zur beinahe klassenkämpferischen Propaganda. In rund 70 Minuten lernt man von Jérôme Bel und Elisabeth Schwartz eine ganze Menge über eine Pionierin des modernen Tanzes.
Am Schluss gibt es herzlichen, anhaltenden Beifall für eine sehr gelungene Lehrstunde in Sachen Tanz.
Ingo Starz (Athen)