Athens Epidaurus Festival/Peiraios 260
Krzysztof Warlikowski: Elizabeth Costello/J.M. Coetzee: Seven Lectures and Five Moral Tales
Besuchte Vorstellung am 7. Juni 2024
Wirklichkeit, Wahrheit und das ganz normale Leben
Krzysztof Warlikowski, der namhafte polnische Regisseur, ist dem griechischen Publikum seit etlichen Jahren bekannt. Mehrere seiner Arbeiten waren in Athen zu sehen, darunter auch seine Inszenierung von Jacques Offenbachs Oper „Les contes d’Hoffmann“ an der hiesigen Nationaloper. Nun präsentiert das Athens Epidaurus Festival als Koproduzent und erste Auslandsstation das neueste Werk des Polen, das erst kürzlich am Warschauer Nowy Teatr uraufgeführt wurde: „Elizabeth Costello/J.M. Coetzee: Seven Lectures and Five Moral Tales“. Dabei handelt es sich, wenn man so will, um eine meta-literarische Spurensuche und um die Wiedererschaffung einer literarischen Figur. Warlikowski widmet sein Stück einer literarischen Erfindung von J.M. Coetzee, einer Schriftstellerin, die als alter ego ihres Schöpfers gelesen werden kann.
Der polnische Regisseur ist ein Meister der fragmentierten Narration. Darin ist er dem Filmemacher David Lynch ähnlich, dessen Einfluss er selbst einmal benannt hat. Warlikowski formt die Elizabeth Costello seines Stücks gleichsam aus drei Büchern von Coetzee: „Elizabeth Costello“, „Zeitlupe“ und „Moralische Geschichten“. Er schafft eine Szenenfolge, die einem Essayfilm ähnelt, um einen weiteren cinematografischen Vergleich zu bemühen. Im längeren ersten Teil präsentiert er dem Publikum Vortragssituationen, in denen Costello zu unterschiedlichen Themen spricht und in Diskussion mit Zuhörern tritt. Dabei geht es verkürzt gesagt um das Menschsein und am Beispiel der Literatur um die Kunst. Was zeichnet den Menschen aus und unterscheidet ihn vom Tier? Was ist die Rolle der Literatur resp. Kunst? Vermag sie es, ihr Publikum und ihre Schöpfer zu besseren Menschen zu machen?
Die Schriftstellerin Elizabeth Costello, von der Warlikowski Fragmente ihres Lebens präsentiert, macht in ihren Vorträgen Referenzen zu Werken der Kunst und Wissenschaft. Da wird etwa relativ früh an diesem vierstündigen Abend Franz Kafka’s berühmte Erzählung „Ein Bericht für eine Akademie“ angesprochen. Darin berichtet ein Affe namens Rotpeter von seiner Menschwerdung, von seiner Erziehung zu einem angepassten Wesen. Warlikowski legt mittels Costello den Finger auf den Aspekt der Integration. Er wirft die Frage in den Raum, welches Bild die Menschen von sich machen und was der Zwang zur Anpassung über die Menschheit und ihr Verhältnis zum Tier und der Natur aussagt. Fast zwangsläufig kommt so die Rede auch auf Ausgrenzung, auf das Andere. Eine Affengestalt mit menschlichem Verhalten auf der Bühne macht dies sichtbar – und den Kafkabezug umso dringlicher. Im weiteren Verlauf der Aufführung muss man an die Einflechtung von Kafkas Bericht zurückdenken, insbesondere an dessen mögliche Deutung als Satire auf die jüdische Assimilation (Max Brod).
Bevor das Publikum in die Pause entlassen wird, werden in zwei aufeinanderfolgenden Szenen auf raffinierte Weise zwei Themen miteinander verknüpft. Zuerst erlebt man eine Diskussion beim Abendessen, in der Costello ihren Verzicht auf Fleisch erklärt und die industrielle Tötung von Tieren als Holocaust bezeichnet. In der darauf folgenden Szene spricht sie über das Buch eines Kollegen, der aus der Täterperspektive von der Hinrichtung Claus von Stauffenbergs und seiner Mitverschwörer im Juli 1944 erzählt. Sie lehnt eine solche literarische Darstellung mit der Erklärung ab, dass man die Perspektive eines Faschisten wie Hitler nicht einnehmen könne ohne selbst der unheilvollen Ideologie nahe zu kommen. In diesem Zusammenhang werden ein paar Künstler, wie Gustaf Gründgens oder Veit Harlan ins Spiel gebracht, die Mitläufer des Nazi-Regimes waren. Raffiniert inszeniert Warlikowski eine Art Teufelspakt zwischen den beiden Schriftstellern, der an Goethes „Faust I“ und den berühmten Mephisto Gründgens erinnert. Die ganze Szene ist eine Auseinandersetzung mit dem Bösen.
Nach der Pause schaut man auf die gealterte Schriftstellerin Elizabeth Costello. Die alte Dame zeigt sich lebenshungrig, kleidet sich extravagant, will Männern gefallen. Sie versucht offensichtlich dem Elfenbeinturm der Kunst zu entkommen. Das Verständnis der Familie darüber hält sich in Grenzen. Und auch hier bringt Warlikowski weitere Referenzen ins Spiel, insbesondere die von zwei Versehrten desselben Autounfalls, welche von unsichtbarer (oder sollte man sagen erzählender) Hand zu einer sexuellen Begegnung zusammengeführt werden. Es ist beeindruckend, wie weit der Regisseur den Bogen seiner Erzählung spannt und wesentliche Fragen zu Literatur und Menschsein aufwirft.
Krzysztof Warlikowski gelingt einmal mehr ein wunderbarer, detail- und referenzreicher Theaterabend. Das Bühnenbild von Małgorzata Szczęśniak, die Musik von Paweł Mykietyn und das Videodesign von Animations Kamil Polak sind dabei integraler Bestandteil seines Konzepts. Getragen wird die Aufführung von einem in jeder Hinsicht vorzüglichen Ensemble: Mariusz Bonaszewski, Magdalena Cielecka, Andrzej Chyra, Ewa Dałkowska, Bartosz Gelner, Małgorzata Hajewska-Krzysztofik, Jadwiga Jankowska-Cieślak, Maja Komorowska, Hiroaki Murakami, Maja Ostaszewska, Ewelina Pankowska, Jacek Poniedziałek und Magdalena Popławska.
Das Athener Publikum feiert die Beteiligten am Schluss mit lautstarkem Beifall.
Ingo Starz (Athen)