Athens Epidaurus Festival / Peiraios 260
Thalia Theater Hamburg: Der Wij
Besuchte Vorstellung am 8. Juni 2023
Auslegeordnung des Kriegs
Copyright: Fabian Hammerl
Wie geht man mit dem russischen Angriffskrieg in der Ukraine künstlerisch um? Wie positioniert man sich dazu als russischer Künstler im deutschen Exil? Kirill Serebrennikov hat gleich nach Kriegsbeginn begonnen, zusammen mit dem jungen ukrainischen Dramatiker Bohdan Pankrukhin Material zu sammeln. Sie haben Berichte gelesen, Videos und Dokumentarfilme angeschaut. Und sie haben sich Gogols Erzählung „Der Wij“, eine Horrorgeschichte von einem Erdwesen, dessen Blick tötet, vorgenommen. Anfang Dezember letzten Jahres haben sie dann den Theaterabend „Der Wij“ am Hamburger Thalia Theater präsentiert. Es ist eine Überschreibung der Gogolschen Prosa, wie sie aktueller nicht sein könnte. Der Wij wird darin zur monströsen, seelenlosen Personifikation des Kriegs.
Das Geschehen spielt in einem unwirtlichen Keller, in dem ein Basketballkorb an freudigere Tage erinnert. Drei ukrainische Männer quälen einen Russen, der relativ ahnungslos in das Kriegsgeschehen hineingeraten ist. Von hier aus entspinnt sich ein Geschehen, das Zeugnis ablegt über die Grausamkeiten des Krieges, über Kriegsverbrechen. Keiner der Protagonisten wird hier wegen seiner Handlungen verurteilt, es werden vielmehr Fragen in den Raum gestellt, es wird der negative, zerstörerische Einfluss auf die menschlichen Psychen ins Licht gerückt. Die Unrechtmässigkeit des Angriffskriegs steht dabei ausser Frage. Das Zusammentreffen der Gegner, Personen mit unterschiedlichen Erfahrungen, bestimmt die Suchbewegung der Performance. Oder mit den Worten von Kirill Serebrennikov: „Was passiert, wenn wir unsere Augen öffnen und uns gegenseitig anschauen? Was ist, wenn wir sie nicht schliessen? Was ist, wenn wir nicht wegschauen?“ Der Regisseur und sein Team schauen und hören in der Tat sehr genau hin.
Copyright: Fabian Hammerl
Kirill Serebrennikov gelingt eine Auslegeordnung des Kriegs von beeindruckender Intensität. Die schmerzerfüllte Verzweiflung der ukrainischen Soldaten (Johannes Hegemann, Pascal Houdus und Oleksandr Yatsenko), der Orientierungsverlust des Russen (Filipp Avdeev), der vom Tod der Enkelin (Rosa Thormeyer) traumatisierte Grossvater (Falk Rockstroh), die auf Kriegsgewinn spekulierende russische Mutter (Viktoria Miroshnichenko) und der als Showmaster auftretende Wij/Krieg (Bernd Grawert) – sie alle zeigen grossartige Leistungen als SchauspielerInnen, machen als Figuren die menschlichen Verwüstungen des Kriegs anschaulich. Neben Gogol ist es Shakespeare, der dem aktuellen Geschehen gleichsam hinterlegt ist. Mehrfach rezitieren die Protagonisten Verse aus „Romeo und Julia“ – die zwischen den verfeindeten Familien zugrundegehenden Liebenden lassen sich dabei als Stellvertreterfiguren derjenigen Menschen in der Ukraine und Russland lesen, die sich nahe fühlen und gerne in Frieden neben- und miteinander leben würden. Serebrennikov und Pankrukhin bieten einen Theaterabend, der ungeschönt auf den Krieg schaut und geradezu zur Diskussion auffordert. Das ist politisches Theater im besten Sinne.
Das Athener Publikum spendet am Schluss anhaltenden, warmen Beifall.
Ingo Starz (Athen)