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ATHEN/ Athens Epidaurus Festival/Peiraios 260: Caroline Guiela Nguyen: LACRIMA. Geschichten eines Brautkleides

15.06.2024 | Theater

Athens Epidaurus Festival/Peiraios 260

Caroline Guiela Nguyen: Lacrima 

Besuchte Vorstellung am 14. Juni 2024

Geschichten eines Brautkleides

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Copyright: Epidaurus-Festival

Objektgeschichten haben in der Museologie seit längerer Zeit Hochkonjunktur. Auch in der populärwissenschaftlichen Literatur gibt es ausgezeichnete Werke, welche Epochen und Ereignisse mittels Objekten beschreiben. Im Bereich des Theaters hat man auch schon Arbeiten gesehen, die eine Handlung mittels Objekten beschreiben und dabei teilweise die Bühne als „Museumsraum“ gestalten. Indem man ein Objekt erzählt, erweitert man den Blick darauf und sorgt für eine Kontextualisierung. Die Regisseurin Caroline Guiela Nguyen hat aus Fragmenten des Realen eine aussergewöhnliche Geschichte gebastelt. Sie erzählt von der Herstellung eines kostbaren Gewands, von dem gescheiterten Versuch, ein alles Dagewesene übertreffendes Brautkleid für eine Prinzessin des britischen Königshauses zu schaffen. 

Das Geschehen ist im Atelier eines Pariser Modehauses angesiedelt. Das detailreiche Bühnenbild von Alice Duchange vermittelt einen guten Eindruck vom handwerklichen Kontext und schafft mittels Vorhängen Raum für unterschiedliche Handlungsräume. Ein Computer und ein abgehängter Screen markieren das erweiterte Bühnengeschehen, öffnen Ansichten virtueller Räume (Videodesign: Jérémie Scheidler). Zoommeetings spielen nämlich eine wichtige Rolle in diesem geschickt konstruierten, fast dreistündigen Theaterabend. Wie sehen die verschiedenen Handlungsfäden oder -ebenen aus? Das britische Königshaus bestellt ein Brautkleid bei einem französischen Modedesigner, dessen Produktionsteam mit spezialisierten Werkstätten zusammenarbeitet. Klöppelarbeiten werden aus der französischen Provinz, Stickereien aus Mumbai bezogen. Die Handlung von „Lacrima“ entfaltet sich durch Kommunikation und Interaktion dieser schöpferischen Akteure, aber auch durch die Einflechtung persönlicher, familiärer Geschichten und Erzählungen von Arbeit. Das Brautkleid macht wie ein Brennspiegel die Komplexität von Arbeitsprozessen deutlich und zeigt, wie viel Schweiss und Tränen  – womit wir beim Titel „Lacrima“ wären – für die Herstellung dieses Luxusartikels vonnöten sind.

Caroline Guiela Nguyen hat ein kluges Stück geschrieben, das auf die Arbeit, deren Bedingungen und die fatalen Folgen für die Arbeiterinnen und Arbeiter schaut. Im Zentrum des Geschehens steht Marion, die dem Atelier des Modehauses vorsteht. In ihrer Person laufen die Handlungsfäden zusammen. Da kommen der ambitionierte und recht rücksichtslose Stardesigner, die von Blindheit bedrohten französischen Klöpplerinnen, eine zu Billiglöhnen produzierende indische Stickereiwerkschaft und der zu Gewalt neigende Ehemann Marions vor. Alle Beteiligten leiden in der einen oder anderen Weise unter den Produktionsbedingungen. Risiken müssen angenommen werden und am Schluss scheitert der Brautkleidauftrag an einem vorsehbaren Problem: Das Gewicht der eingestickten Perlen führt zu Verwerfungen des kostbaren Stoffs. Das Stück endet beinahe, und das deutet bereits die Eingangsszene an, mit dem Selbstmord Marions. Wenn da nicht deren Tochter der schon für tot erklärten Mutter wieder Leben einhauchen würde. Ein etwas surreal anmutender Schluss in einer ansonsten ganz direkt zur Darstellung gebrachten und linear erzählten Performance. 

Ein erstklassiges Ensemble legt die Abgründe hinter dem schönen Schein der Stoffe und Techniken frei. In einem filmisch anmutenden Bühnendesign und in einer gut getakteten Szenenfolge sind Dan Artus, Dinah Bellity, Natasha Cashman, Charles Vinoth Irudhayaraj, Anaele Jan Kerguistel, Maud Le Grevellec, Liliane Lipau, Nanii, Rajarajeswari Parisot, Vasanth Selvam, sowie im Video Nadia Bourgeois, Charles Schera und Fleur Sulmont zu erleben. Ferner kommen die Stimmen von Louise Marcia Blévins, Béatrice Dedieu, David Geselson, Kathy Packianathan, Jessica Savage-Hanford zum Einsatz. Nguyen und ihrem Team gelingt ein sehr stimmiger Abend – und einer, der viele Fragen hinsichtlich Arbeit, Gesellschaft und globaler Ungleichheit aufwirft. 

Das Publikum zeigt sich überwiegend sehr beeindruckt und spendet am Schluss anhaltenden, starken Beifall und einige Bravorufe.

Ingo Starz (Athen)

 

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