Athens Epidaurus Festival, Peiraios 260: Beaver Dam Company: All I Need
Vorstellung am 1. Juni 2022
Kein Entkommen, nirgends
Copyright: Gregory Batardon
Die Pandemie mag Details unseres Alltags verändert haben, grundlegende Dispositionen des neoliberalen, kapitalistischen Systems bedrängen Unabhängigkeit und Entfaltungsmöglichkeiten des Individuums nach wie vor. Das Wohlstandsversprechen ist nur um den Preis der Ein- und Unterordnung zu haben. Man könnte auch sagen, der Maschinerie unseres marktwirtschaftlichen Systems ist nicht zu entkommen. Der Choreograf und Tänzer Edouard Hue hat sich mit seiner Beaver Dam Company, die in Frankreich und der Schweiz angesiedelt ist, der Komplexität westlicher Lebenswelten angenommen. Vom Hip Hop kommend, hat Hue das Konzept einer „sensitive virtuosity“ entwickelt. Klare, starke Ausdrucksgebärden, ein dynamischem, energiegeladenem Bewegungsfluss kennzeichnen seine Arbeiten. Das sieht man nun auch in seinem jüngsten Stück „All I Need“.
Gleich die Eingangsszene macht deutlich, dass es ums Ganze geht. Das neunköpfige Ensemble tritt in Strandkleidung auf, präsentiert sich und beäugt sich gegenseitig. Der Strand wird zum Laufsteg eines streng regulierten Lebens. Abweichler sind unerwünscht. Die fünf Frauen und vier Männer widerspiegeln unterschiedliche Typen – ein Tänzer mit etwas Bauch gehört auch dazu. Der Beat der Musik verleiht dem Geschehen Härte und Unausweichlichkeit. Wie sehr die Existenz einem Wettbewerb und Kampf gleichen kann, zeigt sich noch deutlicher in einer späteren Szene, wo der Kultur- und Meinungsstreit unserer Zeit intensiv und mit geradezu absurder Drastik auf die Bühne kommt – der gesprochene Text dazu lautet: „How to make the murderer save again“. Dies ist auch der Moment, wo Tanz zu Tanztheater mutiert. Im weiteren zeigen sich Auflösungserscheinungen, etwa dann, wenn einer der Tänzer einen Fehler begeht und buchstäblich von der Bühne fällt. Die Grenze zwischen Performanceraum und Auditorium wird überspielt und in Frage gestellt. Der Tänzer ist dann plötzlich einer von uns, ein aus der Rolle Gefallener. Doch die Show muss weitergehen und Wiedereinordnung ist gefragt. Nicht anders als im richtigen Leben. Aufgeben oder Entkommen gibt es nicht.
Die Musik von Jonathan Soucasse, die Kostüme von Sigolène Petey und das Lichtdesign von David Kretonic fügen sich äusserst stimmig in das Konzept der Choreografie. Auf der Bühne stehen neun grossartige Tänzer, die gerade in ihrer Unterschiedlichkeit ein überzeugendes Ganzes formen: Louise Bille, Alfredo Gottardi, Tilouna Morel, Jaewon Jung, Lou Landré, Neal Maxwell, Rafaël Sauzet, Angélique Spiliopoulos und Yurie Tsugawa. Der Choreografie von Edouard Hue ist Frische, Frechheit und Lebendigkeit zueigen. Man spürt, dass der Schöpfer vom Street dance kommt und man darf bewundern, wie er unterschiedliche stilistische Prägungen zu einem heftig pulsierenden Kosmos zusammenfügt. Es ist ein Tanzabend, der überzeugend unsere schwierige Welt reflektiert und in starke Bewegungsbilder übersetzt. Tanz, der nachdenklich macht.
Das Publikum spendet reichlich Beifall und vereinzelte Bravorufe.
Ingo Starz (Athen)