Athens Epidaurus Festival / Peiraios 260
Ayelen Parolin: Zonder
Besuchte Vorstellung am 29. Juni 2024
Donau ohne blau
Copyright: Stanislav Dobak
Er ist der berühmteste Walzer: Johann Strauss‘ „An der schönen blauen Donau“. Das musikalische Werk hat ein interessantes Nachleben, es wurde verschiedentlich künstlerisch rezipiert, vor allem aber wird es alljährlich im Wiener Neujahrskonzert zelebriert. Der Walzer erklingt traditionell als erste Zugabe. Und ein grosses Fernsehpublikum hört erwartungsvoll zu, wenn live aus dem Goldenen Saal des Musikvereins bereits nach den ersten Tönen der Komposition ein erstes Mal geklatscht wird. Das Werk hat Wiedererkennungswert, es gehört in gewissem Sinne zu Wien wie die Sachertorte. Es bleibt bei der Live-Übertragung am Neujahrstag nicht beim Blick auf das Spiel der Wiener Philharmoniker. Der Österreichische Rundfunk spielt jeweils Tanzszenen zur Musik ein, dargeboten vom Ballett der Wiener Staatsoper. An wechselnden historischen Orten aufgenommen, trägt die zu sehende Walzerchoreografie ein so festliches wie kitschiges Image der Donaumetropole hinaus in die weite Welt. Und das Publikum kann von einer derartigen, ritualhaft anmutenden Darbietung des Klassikers offenkundig nicht genug bekommen. Die argentinische Choreografin Ayelen Parolin setzt genau bei dieser Vereinnahmung und Verkitschung des Donauwalzers an und bietet eine so freche wie kluge Auseinandersetzung mit dem Werk, welche die blaue Donau bildlich gesprochen zum Wasserfall und zur Fontäne werden lässt.
In dem 50-minütigen Werk ist nun keineswegs permanent der Donauwalzer zu hören. Es beginnt ohne Musik, bevor dann Fragmente der Walzermusik repetitiv und teils verfremdet zum Einsatz kommen. Das Sounddesign von Julie Bought ist bemerkenswert. Dazwischen gibt es auch kurze pop-musikalische Einschübe oder Ausbrüche – als ob das kleine, dreiköpfige Ensemble dem 3/4-Takt zu entfliehen suche. Zu Anfang tritt eine Tänzerin auf, deren puppenhafte Verrenkungen gleich klarmachen, dass hier etwas aus den Fugen ist. Dann kommen nacheinander die beiden Tänzer auf die leere, nur hinten teils abgeschlossene Bühne. Einer ist mehr dem Ideal des klassischen Balletts verpflichtet, was sich an seiner Bewegungssprache deutlich ablesen lest. Der andere scheint eher einer Volkstanzgruppe entsprungen zu sein, wenn man etwa an seine stampfende Vorwärtsbewegungen denkt. Diese Gruppe versucht nun wiederholt, sich in den Takt der Walzermusik ein- und zusammenzufinden. Doch weder ihre Bewegungen finden zusammen, noch hilft das Zählen, das über das eins, zwei, drei hinausgeht. Es kommen nur komisch-absurde Gebärden zustande, die wie ein Anti-Walzer erscheinen.
Ayelen Parolin dekonstruiert den Walzer und die tradierte Formensprache des Tanzes. Sie entlarvt damit das Normative und das Gefällig-Kitschige, das gerade in Zusammenhang mit dem allseits bekannten Donauwalzer allzu oft vorzufinden ist. In ihrer Choreografie dreht sie konsequent an der Dekonstruktionsschraube und führt den Walzerloop zum chaotisch-krachenden Finale. Anfangs modern gekleidet, erhalten die TänzerInnen schliesslich Rüschen und Paletten. Vom Bühnenhimmel kommen altmodisch anmutende Vorhänge herab, vorne brechen die Protagonisten durch den Bühnenboden, dann fallen bunte Plastikgegenstände herunter. Unter festlichen Vorzeichen fällt das ganze Geschehen mehr und mehr auseinander. Der Donauwalzer begleitet eine Art Untergangstaumel. Piet Defrancq, Naomi Gibson und Daan Jaartsveld machen ihre Sache auf der Bühne ganz grossartig. Virtuos entfalten sie ein Scheitern, das beredt mit allen Walzerkonventionen bricht und zum Satyrtreiben des Tanzes vordringt. Man erlebt einen Donauwalzer ohne Walzer – und der Titel „Zonder“ meint genau dies: „ohne“.
Das Publikum folgt dem destruktiv-absurden Geschehen animiert und lacht desöfteren. Vielleicht sollte man dem Österreichischen Rundfunk empfehlen, es einmal mit einer ganz anders gearteten Choreografie für das Neujahrskonzert zu versuchen. Lautstarker Applaus für die drei TänzerInnen und die Choreografin am Ende des Abends.
Ingo Starz (Athen)