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ATHEN/Athens Epidaurus Festival / Odeion des Herodes Attikus  Anne Teresa De Keersmaeker: EXIT ABOVE

26.06.2024 | Ballett/Performance

Athens Epidaurus Festival / Odeion des Herodes Attikus 

Anne Teresa De Keersmaeker: Exit Above 

Besuchte Vorstellung am 25. Juni 2024

Im Wirbel der Geschichte 

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Copyright: Anne van Aerschot

Man hätte meinen können, Anne Teresa De Keersmaeker’s Choreografie „Exit Above“ sei für die Bühne im Odeion des Herodes Attikus geschaffen worden – so gut kam hier das tänzerische und musikalische Geschehen zur Geltung. Die Belgierin hatte vor einigen Jahren am selben Ort gezeigt, wie man Johann Sebastian Bach’s Cellosuiten tanzen kann. Nun ging es um den Lauf der Geschichte und den afro-amerikanischen Blues. Die tänzerische Sprache De Keersmaekers, welche sich in ihren Anfängen ganz minimalistisch und analytisch zeigen konnte, entwickelte gerade in den jüngsten Jahren einen beeindruckenden Reichtum an „Tönen“. Das war auch bei „Exit Above“ zu erleben und verdankte sich auch dem grossartigen, Diversität ausstrahlenden Ensemble. 

In ihrer Arbeit „Exit Above“ schaut die Choreografin auf den Lauf der Geschichte und darauf, wie Menschen darin auftreten. Ihr konzeptueller Ansatz gründet sich auf Walter Benjamin’s „Engel der Geschichte“, auf William Shakespeares „Sturm“ und auf die Entwicklung des Blues. Walter Benjamins Denkfigur basiert auf einem Seherlebnis, der Anschauung von Paul Klees „Angelus Novus“. Dieser Engel ist dem Denker zum Engel der Geschichte geworden, getrennt von seinem göttlichen Ursprung, entsetzt auf ein Geschehen blickend, das die Menschen als Geschichte bezeichnen, welches dem Engelsblick aber als Katastrophe erscheint. In den Worten Walter Benjamins: „Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, dass der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.“ Benjamin’s Text wird zu Beginn von der Sängerin rezitiert, wenn auch mittels Windmaschine und transparentem, grossformatigem Tuch ein Sturm über die Bühne fegt. Eine Handlung setzt ein, welches Geschichte als Wechsel von Ruhe- und Sturmphasen beschreibt. Es ist dabei gerade der Sturm zu Anfang, in dessen Zentrum drei Protagonisten auszumachen sind, die an Shakespeares Stück erinnern – mindestens ist man geneigt an Prospero und seine Gehilfen Ariel und Caliban zu denken.

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Copyright: Anne van Aerschot

Es ist ein Abend, der auch massgeblich von der Musik strukturiert wird. Der ab den 1860er Jahren im Süden der Vereinigten Staaten auftretende, und sich später nach Norden ausbreitende Blues ist eng mit der gesellschaftlichen Entwicklung und Befreiung der afro-amerikanischen Bevölkerung verbunden. Da ging es von Anfang an um Protest und Rechte, was sich etwa im Marschieren des Ensembles nach dem ersten Bühnensturm zeigt. Der berührende Gesang von Meskerem Mees und das Gitarrenspiel von Carlos Garbin sorgen für den Soundtrack der Aufführung. Es ist Musik, die von Glaube, Liebe und Hoffnung spricht. In diesem Setting entfaltet Anne Teresa De Keersmaeker eine tänzerische Bewegungsfolge, welche das Auf und Ab der Geschichte eindrücklich und energetisch auf die Bühne bringt. Die Dynamik der Gruppenszenen, die vielen, bisweilen intim anmutenden Details, die die Begegnung einzelner TänzerInnen ausformen, die individuelle Gestaltung der Körper – das alles macht die Aufführung zu einem nachdenklich stimmenden Ereignis. Die Protagonisten erscheinen einmal selbstbestimmt agierend, dann plötzlich vom Sturm der Geschichte, vom einem katastrophischen Ereignis hinweggetrieben. Die Choreografie bringt diese Momente auf den Punkt und hält dem Publikum so auch irgendwie den Spiegel vor. Das Bewegungsrepertoire von De Keersmaeker ist so fokusiert wie vielfältig – und das Ensemble könnte, wie schon erwähnt, kaum mehr Diversität und Individualität zeigen.

Alle Elemente der Aufführung spielen hervorragend zusammen. Fraglos muss man zuallererst das dreizehnköpfige Ensemble lobend anführen, welches „Exit Above“ glänzend zur Aufführung bringt. In Tanz und Musik folgen die Tänzerinnen und Tänzer den Spuren des Engels der Geschichte. Zur tollen Musik hat auch Jean-Marie Aerts beigetragen, die Szenografie stammt von Michel François, das Licht hat Max Adams, die Kostüme Aouatif Boulaich gestaltet. Benjamins Engel der Geschichte wird an diesem Abend erfahrbar oder sagen wir besser sein Entsetzen wird durch De Keersmaekers intensive Körperbilder anschaulich gemacht. Es ist ein Abend, der einen beunruhigen kann.

Das Publikum im gut besuchten Odeion beginnt den Schlussapplaus leider zu früh und verdirbt dadurch den ausklingenden Charakter der letzten Szene. Immerhin zeigen sich die Zuschauer aber sehr angetan von der Choreografie. 

Ingo Starz (Athen)

 

 

 

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