Athens Epidaurus Festival / Antikes Theater von Epidauros
Euripides: Iphigenie in Aulis
Premiere am 5. Juli 2024
Fakenews aus Aulis
Foto: Thomas Daskalakis
Timofey Kulyabin lebt in Berlin und ist im deutschsprachigen Raum in den letzten Jahren mit etlichen konzeptstarken Inszenierungen positiv in Erscheinung getreten. In Athen erinnert man sich mit grosser Bewunderung an seine „Drei Schwestern“, die vor sechs Jahren im Rahmen des Athens Epidaurus Festivals gezeigt wurden. Die Verwendung der Gebärdensprache – Tschechows Text kam nur mittels Übertiteln zum Einsatz – verlieh der hochgepriesenen Produktion eine ausserordentliche emotionale Kraft und Dichte. Diese Inszenierung ist unvergessen hier und weckt einige Erwartungen für Kulyabins Erscheinen im antiken Theater von Epidauros. Am Traditionsort des griechischen Theaters sind andere, neue Perspektiven auf antike Klassiker dringend gesucht – auch wenn sie nicht bei allen griechischen Zuschauern erwünscht sind.
Timofey Kulyabin nimmt sich Euripides‘ Tragödie „Iphigenie in Aulis“ vor. Das Werk wurde erst nach dem Tod seines Schöpfers 405 v. Chr. uraufgeführt. Das Stück erzählt eine Episode aus dem trojanischen Krieg. Das griechische Herr steckt in der Hafenstadt Aulis fest, da die Göttin Artemis für Windstille sorgt und diese erst nach der Opferung der Agamemnon-Tochter Iphigenie aufheben will. Der Feldherr ist hin- und hergerissen zwischen Vaterliebe und Dienst am Vaterland. Er lockt die Tochter mit ihrer Mutter Klytämnestra nach Aulis unter dem Vorwand, Iphigenie mit Achilleus vermählen zu wollen. Agamemnon, sein Bruder Menelaos und Achilleus kämpfen auf unterschiedliche Weise mit ihren moralischen Bedenken. Die beiden Frauen sind entsetzt und verzweifelt, als sie von der Intrige erfahren. Agamemnon ist schliesslich entschlossen, seine Tochter zu opfern und Iphigenie vermeintlich bereit, für Griechenland zu sterben. Ein Botenbericht verkündet am Ende, dass die Atridentochter von Artemis gerettet und zu den Göttern entrückt wurde. Geopfert wurde eine Hirschkuh.
Timofey Kulyabin nimmt den Text Ernst, gerade weil er ihm eine ungewöhnliche Lesart abgewinnt. Griechenland ist in seiner Perspektive ein autoritärer Staat, Troja eine abtrünnige, nach Unabhängigkeit strebende Provinz und Artemis ist keine Göttin, sondern ein Geheimdienst. Da die nach Troja entschwundene Helena in dieser Perspektive nur einen schwachen Grund für einen Krieg abgibt, wird ein diabolischer Plan entwickelt. Artemis soll getarnt als trojanische Terrortruppe Iphigenie töten. Der Oberbefehlshaber Agamemnon soll also seine Tochter opfern, um einen triftigen, gefakten Grund für einen Kriegszug herbeizuführen. Die daraus entstehenden Konflikte sind ähnlich wie in der Handlungskonzeption bei Euripides. Auch Kulyabin schaut auf moralische Bedenken der Protagonisten und die übergeordneten Interessen des Staates, der nun allmächtig present ist. Der Schluss ist in der Aufführung eine aufwendig vorbereitete und detailliert inszenierte Propagandashow: In die Hochzeitsfeier von Achilleus und Iphigenie fallen vermeintlich trojanische Terroristen ein und töten die Braut. Das göttliche Eingreifen entfällt. Timofey Kulyabins Konzept macht Sinn und gewinnt dem Stück erhebliche Aktualität ab. Man fühlt sich nicht zufällig an die Zustände im heutigen Russland erinnert.
Foto: Thomas Daskalakis
Die Ausstattung von Oleg Golovko kommt so schlicht wie durchdacht daher. Die in schwarze Plastikfolien gehüllten Raumelemente werden immer wieder im Bühnenrund bewegt und ganz allmählich enthüllt – was der Logik des geplanten Anschlags folgt. Das Sounddesign von Timofei Pastukhov unterstreicht überzeugend die Ereignisse dieses politischen Thrillers. Auf der Bühne sind es vor allem die Machtkämpfe und die Selbstdarstellung der Männer, die entlarvende Einblicke in das autoritäre System liefern. Da kann sich keiner in Sicherheit wiegen, der Staat ist überall. Der Chor mutiert zur bewachenden und überwachenden Truppe, die Bewegungen aller männlichen Akteure drücken Gewalt und Unterdrückung aus, auch da wo sie gleichsam spielerisch daherkommen. Frauen haben in diesem System nichts zu sagen, sie müssen, wie Klytämnestra und Iphigenie, die ihnen zugewiesenen Rollen einnehmen. Die von Iphigenie erklärte Opferbereitschaft fürs Vaterland, bevor ihre Tötung stattfindet, lässt sich als sarkastischer Kommentar, als emotionaler Befreiungsschlag verstehen. Das Ensemble erbringt in allen Rollen gute Leistungen: Anthi Efstratiadou als Iphigenie, Maria Nafpliotou als Klytämnestra, Nikolas Papagiannis als Menelaos, Dimitris Papanikolaou als alter Diener, Nikos Psarras als Agamemnon und Thanos Tokakis als Achilleus. Den Chor bilden Vassilis Boutsikos, Christos Diamantoudis, Dimitris Georgiadis, Marios Kritikopoulos, Dimitris Papanikolaou und Alexandros Piechowiak. Timofey Kulyabin gelingt eine überzeugende und eindringliche Vergegenwärtigung von Euripides‘ Tragödie.
Das Publikum am Premierenabend spendet anhaltenden, aber auch etwas verhaltenen Beifall. Es gibt vereinzelte Bravorufe, jedoch auch viele ratlos anmutende Blicke im Publikum.
Ingo Starz (Athen)