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ATHEN/ Athens Epidaurus Festival / Antikes Theater von Epidauros: Comédie-Française – Tiago Rodrigues: Hécube, pas Hécube. Die Gegenwart des Mythos 

27.07.2024 | Theater

Athens Epidaurus Festival / Antikes Theater von Epidauros 
Comédie-Française – Tiago Rodrigues: Hécube, pas Hécube 

Besuchte Vorstellung am 26. Juli 2024

Die Gegenwart des Mythos 

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Foto: Athens Edidaurus Festival

Aufführungen antiker griechischer Theaterstücke nehmen einen zentralen Platz im Programm des Athens Epidaurus Festival ein. Im Juli präsentierten drei ausländische Regisseure unterschiedliche Zugänge zu den Klassikern. Timofey Kulyabin übertrug in einer Neuproduktion des Festivals Euripides‘ „Iphigenie in Aulis“ konsequent in eine zeitgenössische Kriegshandlung, wo die Griechen einen nicht zufällig an Putins Russland erinnern. Simon Stones bereits ältere Amsterdamer Inszenierung von „Medea“, eine Neuschreibung nach Euripides, setzte die Geschichte in die USA unserer Tage. Nun kam frisch vom Festival Avignon und als Gastspiel der Comédie-Française Tiago Rodrigues‘ „Hécube, pas Hécube“ ins antike Theater von Epidaurus. 

Der Ausgangspunkt von Tiago Rodrigues‘ Stück ist Euripides‘ Tragödie „Hekuba“. Darin geht es um die in Gefangenschaft geratene Trojerkönigin. Hekuba wird von Euripides als Frau und Mutter porträtiert, die alles verloren hat – ihre Heimat, ihre Freiheit, ihren Gatten Priamos und alle ihre Kinder. Das Schicksal des jüngsten Sohnes Polydoros ruft in ihr besondere Verzweiflung hervor. Er wurde vom Vater mit einer Goldreserve, die ihn nähren sollte, zum Thrakerkönig Polymestor geschickt. Nach dem Fall von Troja tötete dieser aus Habgier den jungen Mann. Als Hekuba Gelegenheit dazu erhält, nimmt sie Rache und blendet Polymestor. Teile der antiken Tragödie finden Eingang in das neue Werk von Rodrigues. Dessen Stück „Hécube, pas Hécube“ weist eine faszinierende Verflechtung von antiker Tragödie und persönlicher Realität der Hauptfigur auf.

Tiago Rodrigues liess sich zu seinem Werk von einer realen Geschichte inspirieren, die ihm in der Westschweiz zu Ohren kam. Im Zentrum von „Hécube, pas Hécube“ steht Nadia, eine Schauspielerin, die mit Kollegen Euripides‘ „Hekuba“ probt. Ihr autistischer Sohn wurde in einem staatlichen Fürsorgeheim zum Missbrauchsopfer. Nadia kämpft für die Rechte ihres Kindes, geht durch die Instanzen, gelangt schliesslich an die Presse. Ihre persönliche Geschichte wird durch den Probenprozess engstens mit Hekubas Schicksal verlinkt, genauer mit der Polydoros-Handlung. Nadia ist somit auch Hekuba und der für den Missbrauchsfall verantwortliche Minister auch Polymestor. Lichtwechsel markieren auf der Bühne den Übergang von der einen zur anderen Realität, von Probe zu Missbrauchsermittlungen. Rodrigues verhandelt die Wirkungsmacht der antiken Tragödie, die Kraft des Theaters und seiner Erzählung und ein drängendes Problem unserer Zeit. Das Result ist sehr beeindruckend, um nicht zu sagen überwältigend. In knapp zweieinhalb Stunden erlebt man eine Aufführung, die ein unerhörtes Mass an Welthaltigkeit bietet, die einen über Staat, Demokratie, Grundrechte, Gleichheit und anderes mehr nachdenken lässt. Tiago Rodrigues‘ „Hécube, pas Hécube‘ ist ein Welttheater, das nicht zeitgenössischer, poetischer und politischer sein könnte. Und es gibt wohl keinen besseren Ort für solch ein Stück als das antike Theater von Epidauros. 

Die Inszenierung von Rodrigues beschränkt sich klug auf wenige Requisiten. Neben Tischen und Stühlen ist nur eine monumentale Hundestatue auf der Bühne platziert (Bühnenbild: Fernando Ribeiro). Der Hund bezieht sich auf eine Stelle in der antiken Tragödie und entpuppt sich am Ende als Nadias Alter Ego. Der weite Raum in Epidauros wird szenisch bestens genutzt, die Schauspielerinnen und Schauspieler der Comédie-Française setzen starke spielerische und erzählerische Momente. Eric Génovèse, Denis Podalydès, Elsa Lepoivre, Loïc Corbery, Gaël Kamilindi, Elissa Alloula und Séphora Pondi zeigen eine tolle Ensembleleistung. Lepoivre als Nadia/Hekuba und Corbery als Polymestor/Minister stechen besonders heraus. Die neueste Arbeit von Tiago Rodrigues erweist sich als Ereignis. Der Portugiese zeigt, wie spielerisch, sprachmächtig und aktuell Theater sein kann.

Das Publikum folgt dem Geschehen aufmerksam und feiert am Schluss Tiago Rodrigues und das Ensemble. 

Ingo Starz (Athen)

 

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