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ATHEN/ Athens & Epidauros Festival, Peiraios 260: SAIGON von Caroline Guiela Nguyen

29.06.2019 | Theater


Caroline Guiela Nguyen: Saigon. Photo: Jean Louis Fernandez

Athens & Epidauros Festival, Peiraios 260

SAIGON von Caroline Guiela Nguyen

Besuchte Vorstellung am 28. Juni 2019

Saigon als Erinnerung und Wunde

Die Diskussion um die koloniale Vergangenheit Europas und die daraus resultierende Verantwortlichkeit hat in den letzten Jahren sehr an Dynamik gewonnen. In Frankreich wird intensiv in Museumsbestaende geblickt und ueberlegt, welches Kulturgut restituiert werden muss. Auch in Deutschland begegnet man solchen Debatten, insbesondere in Zusammenhang mit dem in Aufbau befindlichen Humboldt Forum in Berlin. Bei der Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheit kann es jedoch nicht nicht nur um geraubtes Kulturgut gehen, es muessen ebenso die Schicksale und Geschichten der betroffenen Menschen in den Blick genommen werden. Die gewaltsame Kolonialherrschaft europaeischer Laender hat weltweit tiefe Spuren hinterlassen. Ein franzoesisches Theaterprojekt am Athens & Epidauros Festival legt die Wunden und Traumata frei, die das Verhaeltnis von Frankreich zu seiner ehemaligen Kolonie Vietnam bis heute mitbestimmen.

Das Stueck „Saigon“, welches Caroline Guiela Nguyen zusammen mit ihrem Produktionsteam konzipiert hat, fuehrt die Geschichten von Vietnamesen und Franzosen zusammen und fokusiert dabei auf die Jahre 1956 und 1996. In vier Kapiteln wird von der Abreise (in Saigon), der Ankunft (in Paris), dem Verschwundenen (oder Vermissten) und der Rueckkehr berichtet. Im Zentrum steht dabei eine Mutter-Sohn-Geschichte, eine Erzaehlung von einer jungen Vietnamesin, die einem franzoesischen Soldaten in dessen Heimatland folgt und dort den gemeinsamen Sohn grosszieht. Das Stueck beginnt und endet mit der Geburtstagsfeier der Mutter im Jahr 1996. Indem die Handlung permanent zwischen den genannten Jahren hin- und herspringt und sukzessive die Geschichten aller anderen beteiligten Figuren freilegt, entwirft sie ein komplexes und faszinierendes Beziehungsgefuege, das einem Roman gleicht. Sehr geschickt und absolut ueberzeugend konzentriert sich das Geschehen auf ein Restaurant, dessen Wirtin 1956 von Saigon nach Paris uebersiedelt. Dieser Ort ist ein Saigon im Kleinen, ein Mikrokosmos, in welchem Wunden und Traumata zur Ruhe kommen, aber auch immer wieder aufbrechen koennen. Das Restaurant stellt ein imaginaeres, ein erinnertes Saigon dar, einen „Zwischenraum“. Mit einer aeusserst klugen Dramaturgie, einem starken, praezise akzentuierenden Text und ergaenzenden Kommentaren aus dem Off schafft es die Autorin und Regisseurin eine spannungsgeladene, interkulturelle Welt auf die Buehne zu bringen, welche das Publikum in ihren Bann zieht. Der Theaterabend erreicht ein ungewoehnliches Mass an Authentizitaet und weist mehr Welterfahrung auf als manches gehypte dokumentarische Theaterprojekt deutscher Praegung.

Das Buehnenbild von Alice Duchange bringt detailreich und stimmig ein vietnamesisches Restaurant auf die Buehne. Das Sound- und Musikdesign von Antoine Richard traegt wesentlich zur soghaften Wirkung des Geschehens bei. Die Darstellerinnen und Darsteller sind allesamt exzellent, gerade weil ihr Sprechen und Agieren frei von Pathos oder didaktischem Gestus daherkommt. Man muss allen, die auf der Buehne stehen, ein grosses Lob aussprechen: Caroline Arrouas, Dan Artus, Adeline Guillot, Thi Truc Ly Huynh, Hoang Son Le, Phu Hau Nguyen, My Chau Nguyen Thi, Pierric Plathier, Thi Thanh Thu To, Anh Tran Nghia und Hiep Tran Nghia. Der Name der Regisseurin weist darauf hin, dass sie mit dieser Stueckentwicklung auch die Geschichte ihrer Familie erzaehlt. Dem Theater kann nichts besseres widerfahren als solche grossartigen Momente, in welchen Menschen aus unsere Mitte das Wort ergreifen und von der Diversitaet und Komplexitaet unserer Welt berichten. „Saigon“ ist ein Highlight des diesjaehrigen Athener Festivals.

Das Publikum bedankt sich mit langem Beifall und Bravorufen.

Ingo Starz

 

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