Copyright: Athens & Epidauros Festival
Athens & Epidauros Festival
Peiraios 260 H
Látszatélet / Imitation of Life
Besuchte Vorstellung am 21. Juni 2018
Täuschend echt
Dass sich Ungarn unter Viktor Orbán zu einem äusserst schwierigen Plaster für kritische Intellektuelle und Künstler entwickelt hat, ist hinlänglich bekannt. Man kennt auch die ablehnende Haltung der ungarischen Regierung gegenüber Flüchtlingen sowie deren rassistisch motiviertes Vorgehen gegen die Minderheit der Roma im Land. Der Theater- und Filmregisseur Kornél Mundruczó wiederum wird über die Grenzen seines Landes hinaus dafür geschätzt, dass er sich in seiner künstlerischen Arbeit beständig mit drängenden Fragen unserer Zeit und seiner Heimat beschäftigt. Sein Budapester Proton Theater ist heute eine Insel kritischen Denkens in einem Land, das sich leider in gefährlicher Weise von den europäischen Werten wegbewegt. Und dieses Theater ist ein Ort innovativer, künstlerischer Arbeit.
Mundruczós Stück „Látszatélet / Imitation of Life“ geht auf einen realen Vorfall zurück, bei dem ein junger Rom mit einem Samuraischwert angegriffen wurde. Der rechtsextrem gesinnte Angreifer war, wie sich später herausstellte, ebenfalls ein Rom. Dieses paradox anmutende Moment motiviert den Theatermacher zu einer Erzählung (Text: Kata Wéber), die zwei Geschichten geschickt und assoziationsreich verknüpft. Da geht es zum einen um die ältere Frau Lörinc Ruszó, welche der Roma-Minderheit angehört und wegen ihrer Schulden aus der Wohnung geworfen werden soll. Zum anderen handelt das Stück von der jüngeren Frau Veronika, derselben Minderheit angehörend, die ihren Sohn verschweigt, um an die eben erwähnte Wohnung zu kommen. Verlinkt werden die beiden Stränge durch Szilveszter, den Sohn der älteren Roma, welcher eine Affäre mit der jüngeren hat. Beide Söhne verbindet ihr gefärbtes, blondes Haar, welches die Verleugnung der Roma-Identität veranschaulicht. Damit kommt nun der Aspekt des Imitierens ins Spiel, der Versuch sich und der Aussenwelt eine andere Identität vorzuspielen. In Mundruczós Stück wird verhandelt, wie Menschen sich selbst inszenieren, ein anderes Leben unter bedrückenden Umständen zu imitieren suchen.
Der Bühnenraum von Márton Ágh, der zwischen den beiden Erzählsträngen eine spektakuläre 360 Grad-Drehung vollzieht und so das vorige Leben gehörig durcheinanderwirbelt, zeigt eine beengte, heruntergekommene Wohnung. Der Raum weist wohl nicht zufällig eine sakrale Konnotation auf: zwei Kreuze an der linken Wand, Triumphbogen- und Apsisform. Das Leiden einer Minderheit gewinnt so eine tiefergehende Dimension. Der Blick des Zuschauers auf die Wohnung wird gleichsam durch Fotoecken gerahmt, womit auf ein Medium verwiesen wird, welches Leben abbildet und also auch imitiert. Und noch ein weiteres interessantes Moment sei erwähnt: Die Befragung der älteren Frau durch den Geldeintreiber sehen wir zu Beginn auf einem Screen, der die Wohnung verdeckt. Dabei fällt auf, dass Bild- und Tonspur nicht wirklich synchron laufen. Der Akt des Imitierens wird so medial vermittelt resp. angedeutet. Mit einem raffinierten Instrumentarium gelingt es dem Regisseur, das titelgebende Thema des Stück in Inhalt und Darstellungsweise überzeugend und mit viel sinnlichem Reiz zu behandeln. Das Ensemble leistet in diesem schillernden Kontext hervorragende Arbeit: Lili Monori als Lörinc Ruszó, Annamária Láng als Veronika, Zsombor Jéger als Szilveszter, Dáriusz Kozma als Jónás und Roland Rába als Geldeintreiber. Das Publikum dankt mit viel Beifall.
Ingo Starz (Athen)