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ATHEN/ Athens & Epidauros Festival Peiraios 260 B: DIE STADT von Loula Anagnostaki

Die Stadt als Beben

10.06.2018 | Theater

Athens & Epidauros Festival
Peiraios 260 B
DIE STADT
Generalprobe am 9. Juni (Premiere: 10. Juni)

Die Stadt als Beben

Das Athens & Epidauros Festival gedenkt in diesem Jahr mit der Ausstellung „Räume der Erinnerung“ und zwei Theaterproduktionen der bedeutenden Stückeschreiberin Loula Anagnostaki (1928-2017). Seit Mitte der 60er Jahre hat die in Thessaloniki geborene Autorin einen wesentlichen Beitrag zum modernen griechischen Theater geleistet. Ihre Stücke verhandeln Momente der griechischen Kultur und Zeitgeschichte, sind dabei aber universell in ihrer bemerkenswert sensualistischen Figurenzeichnung. Wie bei anderen Autorinnen und Autoren ihrer Zeit steht der mit Gesellschaft und persönlichem Umfeld streitende Mensch im Zentrum, jener der sich in einer Falle oder Sackgasse wähnt und den die Sehnsucht nach einem anderen Leben umtreibt. Individuelles und Kollektives sowie Innen- und Aussenwelten gehen dabei oft nahtlos ineinander über. „Anagnostakis Dramaturgie entwirft eine Galerie von würdevollen Menschen.“ (Irene Mountraki)

Die erste der beiden Produktionen zum Anagnostaki-Schwerpunkt bringt der allererstes Stück, den Einakter „Die Stadt“ (gr.: I Poli) auf die Bühne. Das Werk wurde im Jahr 1965 vom berühmten Regisseur Karolos Koun in Athen zur Uraufführung gebracht. Darin geht es um das junge Paar Kimon und Elisabeth, das gleichsam heimatlos von Stadt zu Stadt zieht, um der dunklen Vergangenheit – vom Konzentrationslager ist einmal die Rede – zu entfliehen und einen Weg des Zusammenlebens zu finden. In jeder Stadt suchen sie nach einem Opfer für ein ‚Spiel‘, dem fraglos eine höchst psychotherapeutische Bedeutung innewohnt. Das jüngste Opfer ist ein Fotograf, der es liebt, Menschen, die sich tot stellen, abzulichten. Nun fällt dieser auf den vorgetäuschten Selbstmord Kimons herein. Anagnostaki verschränkt in ihrem nur gut 45 Minuten dauernden Stück auf sehr interessante Weise die Psyche von Kimon und Elisabeth mit der Morphologie der Stadt. Sie arbeitet dabei mit einer präzise geformten Sprache, die bildstarke Metaphern aufweist.

Dem Regisseur Yannis Moschos gelingt es, der Sprache und ihren Bildern einen eindrücklichen theatralen Resonanzraum zu schaffen. Die Ausstatterin Tina Tzoka hat ihm passend dazu eine Stadtlandschaft auf die Bühne gestellt, eine Reihe unterschiedlich grosser und hoher Podien, welche an Dachterrassen erinnern und gleichzeitig Innenräume markieren. Christos Dimas hat Videos und Elina Giounanli Fotos geschaffen, die Details oder besser Gesten der Figuren stark vergrössert ins projizierte Bild rücken. Und der Sound von Nikos Vittis macht nicht nur Schritte laut, sondern lässt vor allem wiederholt den Raum wie von Naturgewalt erbeben und die Darstellern erzittern. Mit solchen Beben gehen Szenen- und Lichtwechsel resp. kurze Dunkelphasen einher (Lichtdesign: Lefteris Pavlopoulos). Der Regisseur Yannis Moschos verbindet die aufgeführten dichotomischen Momente von Innen und Aussen, Gross und Klein, Mensch und Natur zu einer intensiven und dichten Erzählung über zwei getriebene, junge Menschen, die nach einer Zukunft und einem Platz in der Gesellschaft suchen. Mit Michalis Syriopoulos, Loukia Michalopoulou und Themis Panou stehen ihm drei überzeugende und sehr präsente Schauspieler zur Verfügung. Es ist ein kurzer Theaterabend, aber einer, der grosse Lust darauf macht, mehr von Loula Anagnostakis Werk wiederzuentdecken.

Das Publikum der Generalprobe folgt dem Geschehen animiert und spendet am Schluss langanhaltenden Beifall.

Ingo Starz (Athen)

 

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