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ATHEN/ Athens & Epidauros Festival Megaro Mousikis: 1993 nach Francis Fukuyama von Julien Gosselin

08.06.2018 | Theater

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Foto: Athens & Epidauros Festival

Athens & Epidauros Festival
Megaro Mousikis
1993
Besuchte Vorstellung am 7. Juni 2018

Ich bin ein Europäer

In letzter Zeit denkt Europa viel über sich selbst nach, über vermeintliche Werte, seine fragile Einheit und über die, welche nach Europa kommen und gerne hier leben würden. Angesichts der drängenden Fragen und Probleme, die den Kontinent beschäftigen, wird kaum einer mehr sagen wollen, dass das Ende der Geschichte sich vollzogen habe. Was der amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama 1992 in seinem Buch „Das Ende der Geschichte“ darlegte, dass nämlich nach dem Ende des Kalten Kriegs die westliche, liberale Gesellschaftsordnung obsiegt habe, dient Julien Gosselin, dem Jungstar der französischen Theaterszene, als Ausgangspunkt seiner zivilisationskritischen Analyse „1993“ – ein Fukuyama-Zitat wird zu Beginn der Aufführung projiziert. Die Multimedia-Produktion gastiert nun in der Alexandra Trianti Hall des Megaro Mousikis.

Gosselin arbeitet für seine theatrale Europa-Analyse, die im Juli des vergangenen Jahres in Marseille uraufgeführt wurde, mit Schauspielschülerinnen und -schülern, die alle im Jahr 1993 geboren wurden. Und er kollaboriert mit dem jungen Erfolgsschriftsteller Aurélien Bellanger. Dieser liefert einen über weite Strecken essayistisch gestalteten Text, der an zentralen Stellen um zwei visionäre Projekte Europas kreist: den Teilchenbeschleuniger Cern und den Eurotunnel, der unter dem Ärmelkanal Grossbritannien mit dem Kontinent verbindet. Wissenschaft und Verkehr als verbindende Elemente Europas, die im Lichtdesign der Aufführung (Quentin Maudet, Juliette Seigneur und Nicolas Joubert) als Lichtblitze und -streifen wie ein Experimentalfilm daherkommen. Auf der akustischen Ebene kommen zu den Stimmen aus dem Dunkel, die wie Echos naher und ferner Debatten wirken, hämmernde Technobeats (Musik: Guillaume Bachelé).

Der zweite Teil des Abends bezieht sich auf die Verleihung des Friedensnobelpreises an die EU im Jahr 2012. Der pathetisch daherkommende Text zu diesem Ereignis wird von einem Video konterkariert, das den Flüchtlingsdschungel von Calais zeigt. Erst im letzten Teil gewinnt das Ensemble an körperlicher Präsenz, wenn im Halbdunkel eine Party von Erasmus-Studenten abläuft, in die unvermittelt Gewalt einbricht. Am Ende mutiert die dekadente Schar im grellen Bühnenlicht zu einer unheimlichen Gruppe von Rechten: Vorbei mit Multi-Kulti und Grenzen dicht. Dieses Bild gehört fraglos zur gegenwärtigen Situation in Europa. Doch, ist das alles und wie lässt sich dieser Befund schlüssig erklären? Ist die europäische Einheit nurmehr in der Umkehrung resp. Negierung ihrer ursprünglichen Werte zu haben?

Das Theaterprojekt von Julien Gosselin und Aurélien Bellanger diskutiert in essayistischer Manier wichtige Fragen zu Europa, schafft es aber nur partiell, eine starke dramaturgische Struktur zu entwickeln. So mancher Gedanke verliert sich leider im Raum. Ästhetisch sehr überzeugend gerät der Erasmus-Teil am Schluss, wo auch die eingesetzten Medien schlüssig zueinander finden: Man sieht die Party in einer WG-Wohnung im unteren Teil der Bühne, während die Videoprojektion (Camille Sanchez und Pierre Martin) darüber Details aus dem wilden Geschehen präsentiert. Raum (Emma Depoid und Solène Fourt), Bewegung und Text sind hier in Zusammenklang und das Ensemble läuft zu Hochform auf: Quentin Barbosa, Genséric Coléno-Demeulenaere, Camille Dagen, Marianne Deshayes, Roberto Jean, Paul Gaillard, Pauline Haudepin, Dea Liane, Zacharie Lorent, Mathilde-Edith Mennetrier, Hélène Morelli, Thibault Pasquier und David Scattolin.

Das Publikum bekundet spürbar Mühe, allen Gedankengängen der französischen Truppe zu folgen, zeigt sich aber sehr aufmerksam. Es spendet am Ende des 100-minütigen Abends starken Beifall.

Ingo Starz (Athen)

 

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