Copyright: Viktor Dmitriev/Athens Festival
Athens & Epidauros Festival
Peiraios 260 D
DREI SCHWESTERN von Anton Tschechow
Besuchte Vorstellung am 16. Juni 2018
Nur Gesten und Blicke
Die Rezeptionsgeschichte von Anton Tschechows Drama „Drei Schwestern“ startete mit einem Missverständnis: Konstantin Stanislawski brachte das Werk als psychologisches Rührstück auf die Bretter des Moskauer Künstlertheaters. Dass das Drama dabei vornehmlich an der Vergangenheit orientierte Sehnsüchte ansprach, war durchaus nicht im Sinne des Schöpfers, dem es um eine Analyse zeitgenössischer Existenz in Russland ging. Tschechows Blick, der gleichsam unter dem Slogan „Nach Moskau!“ läuft, ist auf die Zukunftsuntauglichkeit des Bürgertums und niederen Adels gerichtet. Sein Vorgehen ist dabei einigermassen undramatisch, weil sein Stück nicht nur Langeweile und Stillstand zur Darstellung bringt, sondern auch die Akteure darin ständig aneinander vorbeireden. Tschechows Erzählweise als Dramatiker nähert sich der eines Romanciers an, weil sie unterschiedliche Handlungsmomente nebeneinander setzt und mit verschiedenen Tonlagen arbeitet. Diese ausgesprochen modernen Aspekte rücken ein Drama wie „Drei Schwestern“ nahe zu heutigen resp. postdramatischen Formen des Theaters. Am Athener Festival ist nun eine Produktion des Staatlichen Akademischen Theaters aus Nowosibirsk zu sehen, die in der Saison 2016/17 zur Premiere kam. Der Regisseur Timofey Kulyabin hat sich für ein radikales Vorgehen entschieden: Er trennt den Text von den Körpern und erreicht so eine faszinierende Intensivierung der Gefühlshaushalte auf der Bühne.
Kulyabins Interpretation der „Drei Schwestern“ präsentiert das Drama, mindestens was die sprachliche Seite betrifft, als weitgehend stummes Schauspiel. Nur der Bote Ferapont spricht Tschechows Sätze, während sich alle anderen mit Gebärdensprache verständigen. Als Zuschauer ist man darum in aller Regel auf Übertitel angewiesen. Mit diesem ungewöhnlichen Vorgehen, welches vom Ensemble grossartig umgesetzt wird, erzielt der Regisseur eine sensualistische Durchdringung des Stoffs, die buchstäblich alle Facetten des Tragischen und Komischen aufscheinen lässt. Natürlich bedeutet dies nicht, dass das Bühnengeschehen tonlos daherkommt. Neben Gebärden, ausgefeilten Bewegungen und Blickwechseln, die bewundernswert präzise choreografiert sind, treten nonverbale Gefühlsäusserungen, hörbare Laute, die Freude wie Enttäuschung vermitteln können. Dazu kommt eine Vielzahl von Bühnengeräuschen, die dem akustischen Relief der Aufführung Tiefe geben (Sound: Nina Belkina). Der dritte Akt, in dem sich die Konflikte zuspitzen, gerät so buchstäblich zum Purgatorium der leidenden Figuren. Angesiedelt ist das Ganze in einem weitläufigen, von Oleg Golovko konzipierten Bühnenraum, der die verschiedenen Räume des Hauses der Geschwister Prozorov eindrucksvoll aneinanderreiht. Voll von in die Jahre gekommenem, hellgrauem Mobiliar erlauben diese wandlosen, nur durch Bodenlinien markierten Räume eine Vielfalt an Parallelhandlungen. Das ist wirklich grossartig anzuschauen. Das kluge Lichtdesign von Denis Solntsev unterstützt diese ausgreifende und detailreiche Spielanordnung vortrefflich. Timofey Kulyabin gelingt eine Deutung des Dramas, die auf höchst originäre Weise die Relationen zwischen Text und Spiel, Wort und Gefühl auslotet.
Das vierzehnköpfige Ensemble bietet in Punkto Präsenz, Ausdrucksspektrum und Timing eine fabelhafte Leistung. Da das vom Festival publizierte Material keine Rollenangaben aufweist, seien alle Akteure gleichermassen gelobt: Ilya Muzyko, Valeria Kruchinina, Irina Krivonos, Daria Emelyanova, Linda Akhmetzyanova, Denis Frank, Pavel Polyakov, Anton Voinalovich, Konstantin Telegin, Andrei Chernykh, Alexei Mezhov, Sergey Bogomolov, Sergey Novikov und Elena Drinevskaya. Man kann sich in der Tat nicht satt sehen am gekonnten Spiel der Schauspielerinnen und Schauspieler aus Nowosibirsk.
Das Publikum folgt interessiert dem ausserordentlichen Geschehen. Am Ende der gut vierstündigen Aufführung gibt es kräftigen, anhaltenden Applaus und Bravorufe.
Ingo Starz (Athen)