ANTONIO VIVALDI: DORILLA IN TEMPE – Naïve 2 CDs
Vivaldi Edition nimmt nach mehrjähriger Pause wieder an Fahrt auf
Es ist die achtzehnte Einspielung aller erhaltenen Vivaldi Opern, deren Partituren vor etwa hundert Jahren wiederentdeckt wurden. Die Vivaldi-Edition des französischen independent Labels Naïve, konzipiert vom italienischen Musikwissenschaftler Alberto Basso, ist eines der ambitioniertesten Aufnahmeprojekte der Schallplattengeschichte und wird mit der vorliegenden Aufnahme des Schäferstücks „Dorilla in Tempe“ (nach einer schwierigen Phase iZm der Marktsituation des Labels) wieder aufgenommen. Große Freude bei Melomanen und Freunden der Barockmusik ist angesagt. Über die nächsten zwei Jahre solle sieben neue Alben mit namhaften Künstlern veröffentlicht werden. Das ultimative Ziel ist es, die Sammlung von rund 450 Vivaldi-Autografen einzuspielen, die heute in der Biblioteca Nazionale in Turin verwahrt wird. Die Partituren stammen allesamt aus Vivaldis Privatbibliothek. Die Manuskript-Sammlung enthält Opern, Konzerte, Sakralwerke und Kantaten. Eine ganze Menge dieser beispielsweisen 300 Konzerte für ein oder mehrere Instrumente wurde seit dem 18. Jahrhundert nicht mehr aufgeführt.
Dorilla in Tempe, im November 1726 in Venedig im Teatro Sant’Angelo uraufgeführt, erklingt in der „Turiner“ Version von 1734. Es handelt sich um ein Pasticcio, an dem mehrere Komponisten mitgewirkt haben, deren Arien fallweise anstelle von Vivaldis Musik zu hören sind. So gibt es unter den 21 Arien acht Entlehnungen von Hasse, Sarro, Leo und Giacomelli. Fragen der Urheberschaft hat man damals bekanntlich nicht sehr ernst genommen.
Im Zentrum der Geschichte stehen die haarsträubenden Missgeschicke Dorillas und allerlei verzwackte Liebesintrigen (Königstochter liebt den Hirten Elmiro und wird wiederum von dem in die Figur des Hirten Nomio geschlüpften Apollo begehrt). Es gibt dann noch den das Land verwüstenden Drachen Python, dem Dorilla geopfert werden soll. Klar dass Nomio alias Apoll die an den Felsen gebundene Dorilla rettet und den Drachen mutig erschlägt. Nach allerlei Heimlichkeiten, Entführung und tollkühnen Sprüngen Dorillas in einen Fluss samt deren abermaligen Rettung, outet sich Nomio als Apoll und ordnet die Heirat von Dorilla und Elmiro, Filindo und Eudamia an. Ein Chor besingt das Happy End. Eigentlich sind ja die Handlungen vieler Barockopern völlig irrelevant, die Libretti müssen nur genügend Gelegenheit für barocke Affekte und deren musikalische Umsetzung in virtuose Akrobatik liefern.
Erstaunlicherweise gibt es weder Sopran, Tenor noch Bass, die sechs Hauptrollen fallen vier Mezzos, einem Kontraalt und einem Bariton zu. Auf Countertenöre hat Dirigent Diego Fasolis diesmal ganz verzichtet. Wer diese tieferen Stimmlagen präferiert, wird bei dieser Oper voll auf seine Rechnung kommen. Romina Basso (Dorilla), Serena Malfi (Elmiro), Marina de Liso (Nomio), Lucia Cirillo (Filindo), Sonia Prina (Eudamia) und Christian Senn (Admeto) entwerfen ein vokal profiliertes und gesanglich hochvirtuos gepinseltes Bild des gar nicht so idyllischen Schäferstücks. Die Timbres und persönlichen Eigenheiten/Vorzüge der Mezzos heben sich hinreichend voneinander ab, damit der lange Arienreigen nicht zu einem vokalen Einheitsbrei verkommt. Basso und Malfi haben hierbei die malzigeren, runderen Stimmen im Vergleich zu de Liso und Prina, die mehr durch eine vokal teils drastische Charakterisierung ihrer Figuren denn bloßen Schöngesang auffallen. Auf der Instrumentalseite sorgen I Barocchisti für barocken Schwung und Wohlklang. Sie kosten alle lautmalerischen Finessen des italienischen Meisters inkl. des reizvollen Einsatzes von Waldhörnern aus. Der Coro della Radiotelevisione svizzera, der auch einen Sequenz aus Vivaldis Jahreszeiten („Frühling“) singen darf, macht seine Sache ebenfalls gut. Nicht nur für Opernfreunde, die schon alles zu haben glauben, eine koloraturenreiche Ausgrabung.
Dr. Ingobert Waltenberger