Der Sonntagmorgen in Helsinki war grau und neblig. Zu Fuß machte ich mich auf den knapp halbstündigen Fußweg von meiner Ferienwohnung zur Finnischen Nationaloper, die nicht nur das einzige professionelle Opernensemble des Landes, sondern auch die einzige professionelle Ballettcompagnie Finnlands beheimatet.
Vor der Oper erwartete mich Ballerina Anni Jokimies. Wir waren an diesem Morgen ganz alleine im großzügig gebauten Opernhaus und machten für den Neuen Merkereinige Fotos im Ballettsaal und im Foyer, bevor wir uns beim Kaffee über Annis bisherige Laufbahn und das Finnish National Balletunterhalten.
„Wir haben ein sehr vielfältiges Repertoire, welches hauptsächlich durch klassischen Tanz bestimmt wird, doch auch moderne Stücke kommen keinesfalls zu kurz. Für mich ist es spannend, mit Menschen aus vielen verschiedenen Nationen zusammenzuarbeiten.“ erzählt die 21-jährige Tänzerin. Die Company residiert zwar in Helsinki, aber im Rahmen einer jährlichen Sommertour werden fünf oder sechs andere Städte in Finnland bespielt. Es handelt sich hierbei um Open Air Auftritte bei freiem Eintritt. In diesem Jahr werden Jyväskylä, Tampere, Kotka, Kuopio und Annis Geburtsort besucht.
Die Blondine wuchs in der karelischen Stadt Lappeenrantaa an der russischen Grenze auf. Bereits mit 14 Jahren zog sie in die 230 Kilometer entfernte Hauptstadt, um sich ihren Berufswunsch als Profitänzerin zu erfüllen. Seitdem war sie drei Jahre lang Mitglied der Finnish National Opera Ballet School und bekam im Alter von 17 Jahren ein Stipendium der Ballettschule Theater Basel. Mit 14 hatte sie schon ihre erste eigene Wohnung, kochte für sich selbst und wurde früh erwachsen und unabhängig. So war der temporäre Umzug in die Schweiz auch keine große Hürde in ihrem jungen Leben. „Anfangs hatte ich großen Respekt vor diesem Schritt, aber ich habe sehr schnell begonnen, die Zeit in Basel zu genießen.“
Was sind die Karrierepläne einer jungen Ensembletänzerin, die noch ganz am Anfang ihrer beruflichen Karriere steht? In der Zukunft sind Erfahrungen mit anderen Ensembles wünschenswert, aber im Moment ist Anni mit ihrem Engagement in Finnland sehr glücklich. Die Frage nach Solorollen beantwortet sie diplomatisch: „zunächst geht es darum, Erfahrungen zu sammeln und künstlerisch zu wachsen, aber natürlich ist der Wunsch, irgendwann größere Rollen zu übernehmen, vorhanden.“
Wenn ich an das typische Klischee über Finnen denke, steht Emotionalität nicht ganz oben auf der Liste. Anni beweist jedoch, dass Herzlichkeit, Lachen und Lebensfreude auf jeden Fall Teil der finnischen Kultur sind. Insbesondere in Südkarelien, ihrer Heimat, sind die Menschen sehr offen und lebensfroh. „Ich war niemals schüchtern und ruhig. Vielleicht stimmt, es dass Finnen im Allgemeinen reservierter sind als Menschen aus südlicheren Ländern, aber Freunden gegenüber sind sie sehr herzlich. Ich beobachte auch, dass sich die Mentalität derzeit etwas verändert und meine Landsleute offener – auch Fremden gegenüber – werden.“
In diesem Jahr feiert Finnland das 100-jährige Jubiläum seiner Unabhängigkeit. Die Nationaloper und das Ballett führen aus diesem Grund vermehrt finnische Werke auf. „Am 3. November 2017 werden wir eine Choreographie von Kenneth Greve zum Nationalepos Land of Kalevalazur Uraufführung bringen. In Finnland feiern wir aber eher mit Understatement als mit großem Pomp.“
Svetlana Zakharova und Iana Salenko gehören zu Annis Idolen. „Immer wenn ich reise, versuche ich Vorstellungen anderer Compagnien zu besuchen und auch auf DVD sehe ich mir viele Aufführungen an.“ Es treten selten Gäste beim Finnish National Ballet auf. „Im vergangenen Jahr gastierte Svetlana Zakharova in einer Vorstellung bei uns und es war für mich absolut aufregend mit ihr gemeinsam auf einer Bühne zu stehen! Schon als Kind habe ich auf Youtube ihre Auftritte bewundert.
Wir sind etwa 80 Tänzer aus 21 Nationen. Unser Ballettdirektor Kenneth Greve stammt aus Dänemark und hat unter anderem in New York und Paris getanzt. Insofern wird durch ihn der bis dahin russisch geprägte Tanzstil in Helsinki nun eher französisch dominiert. Greves Vertrag endet 2018 und wir sind alle gespannt, wer sein Nachfolger oder seine Nachfolgerin werden wird.“
Die klassischen Ballette wie Schwanenseesind so gut wie immer ausverkauft, aber auch die moderneren Werke sind sehr gut besucht. „Unser Publikum ist sehr aufgeschlossen und wir können uns immer auf die Anwesenheit der Zuschauer verlassen. Wir haben ein sehr gutes und treues Publikum.“
Meine Frage nach Annis Hobbys führten uns unmittelbar zu ihrem Beruf zurück: „Mein Beruf ist mein Leben. Ich lasse das Ballett nicht hinter mir zurück, wenn ich das Theater verlasse. Ballett ist meine Passion und ich liebe, was ich tue. Es ist eine Gnade, solch einen Beruf ausüben zu dürfen. In meiner Freizeit treffe mich gerne mit Freunden und liebe es, Filme anzusehen. Ich lese auch gerne.“
Dieser graue Tag wurde entgegen der meteorologischen Rahmenbedingungen durch das anregende Gespräch, die funkelnden Augen und das strahlende Lächeln von Anni zu einem echten Sonnentag. Das Charisma eines zukünftigen Stars hat die Ballerina schon heute!
© Marc Rohde im April 2017