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ANNABERG-BUCHHOLZ. FALSTAFF von MICHAEL WILLIAM BALFE – Deutsche Erstaufführung

17.10.2022 | Oper international

ANNABERG-BUCHHOLZ. FALSTAFF von MICHAEL WILLIAM BALFE – Deutsche Erstaufführung 14.10. 2022 (Werner Häußner)

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Foto: Theater Annaberg-Bucholz

Kleines Theater, ganz groß: Seit Jahren pflegt das Eduard-von-Winterstein-Theater im erzgebirgischen Annaberg-Buchholz die Tradition, vergessene Opern und Operetten aufzuführen. Intendant Moritz Gogg zieht diese Programmlinie seines Vorgängers Ingolf Huhn weiter und präsentierte in einer gefeierten Premiere einen bekannten Stoff in einer seit 1838 nicht mehr szenisch realisierten Version: Die Geschichte der erotischen Eskapaden von Sir John Falstaff, nicht von Shakespeare, nicht von Antonio Salieri, Otto Nicolai oder Giuseppe Verdi. Sondern in ein Wunderwerk elegant-geschwinder Notenkaskaden gekleidet von Michael William Balfe.

Der in Dublin geborene Komponist, Geiger und Sänger schrieb 28 Opern zwischen 1829 und 1864, von denen einige in ganz Europa aufgeführt wurden. Er arbeitete mit erstklassigen Sängern seiner Zeit zusammen, von Giulia Grisi bis Maria Malibran. „Falstaff“ wurde in „Her Majesty’s Theatre“, der italienischen Oper Londons, uraufgeführt; die Besetzung umfasste Berühmtheiten wie den Tenor Giovanni Battista Rubini, den Bariton Antonio Tamburini und den Bass Luigi Lablache in der Titelrolle. Dies ist – so die These der Herausgeberin des Notenmaterials, Valerie Langfield – wohl auch der Grund, dass die Oper nie wieder zu sehen war: Die sängerischen Anforderungen sind eminent. Eine einzige konzertante Aufführung gab es 2008 zum 200. Geburtstag Balfes in Dublin. Davon ist auch eine CD erhältlich.

Umso mehr ist die Courage zu bewundern, mit der sich das Ensemble in Annaberg-Buchholz in Balfes Musik stürzt. Wjatscheslaw Sobolev hat die Beweglichkeit und die Höhe, um die für Rubini geschriebene Partie des Fenton charmant zu bewältigen. Stilistisch nähert er sich den Tugenden des Belcanto noch am erfolgreichsten – die anderen wackeren Vokalisten des Annaberger Ensembles bemühen sich redlich um den Schliff, der aus einem Rohdiamanten einen funkelnden Edelstein macht.

Doch Festival-Maßstäbe anzulegen, wäre in höchstem Maße ungerecht, zumal die Komödianten auf der Bühne in Sachen Einsatzfreude und unbekümmerter Spiellaune so manches Glamourevent ziemlich schal aussehen lassen. Daran hat auch Regisseur und Ausstatter Christian von Götz seinen Anteil. Er nutzt die Bühne des putzigen Theaterbaus optimal: Eine aufgeklappte Drehscheibe bildet zwei Spielflächen, die eine mit viel Lametta und einem Tresen als silbrig glitzernde Bar ausstaffiert, die andere als offener Raum, der bisweilen mit Projektionen schottischer Tartan-Muster einen britischen Touch verpasst bekommt. Dort schmieden die Damen ihren Racheplan gegen den weibstollen Anarchisten Falstaff, der in der Gestalt von László Varga einmal nicht als fetter Schlemmer, sondern mit seinen blauen Haaren eher als melancholischer Clown auftritt – auch das eine Shakespeare-Reminiszenz.

Christian von Götz überzieht Bühne und Figuren mit einem quietschbunten Zirkusfarbenrausch, leuchtet sie mal in tiefem Blau, mal in impertinentem Pink aus, verkleidet Fenton und seine angebetete Annetta Page als Harlekin und Colombina und lässt sie im Duett – anrührend gesungen mit Maria Rüssel – durch das Traumland der Lüfte schweben: Artisten der Liebe, die sich ohne sicheres Netz ins Reich ihrer Gefühle wagen. Anders die Biedermänner wie Mr. Page (solide singend: Jinsei Park): Bei ihnen wirkt das bunte Gewand ambivalent: Ob sie ihre geordnete Durchschnittlichkeit damit camouflieren oder verrücktes Personal in einer artistisch abgedrehten Welt sind, bleibt anregend offen. Jason-Nandor Tomory als Mr. Ford war leider ziemlich krank, rettete aber dankenswerterweise die Vorstellung; Teile seiner Partie übernahm spontan, von der Seite singend, Chordirektor Daniele Pilato.

Bettina Grothkopf (Rosa Ford) malträtiert den armen Falstaff für seine Avancen nicht nur mit ihrem Gesang, sondern fesselt ihn auch mit Absperrband – ein Versuch, der kläglich scheitert. Erst am Ende tragen die vereinten Kontrahenten Falstaffs den Sieg davon: Der Ritter wird zum Schlussrondo á la Rossini als graumausiger Bürokrat auf einen Drehstuhl gezwungen, den Laptop vor den Augen und eine drohend leuchtende Uhr im Hintergrund. Maximale Strafe für einen lustvollen Genießer. So geht’s dem, der „Übles“ tut.

Ungetrübtes Vergnügen bereitet die Musik Michael Balfes, zumal sich Jens Georg Bachmann und die Erzgebirgische Philharmonie erfolgreich um leichten Klang und saubere Intonation bemühen. Balfe hat u. a. bei Luigi Cherubini sein Handwerk gelernt und bedient sich als versierter Opernpraktiker geschickt aus dem Repertoire zeitgenössischer Formen. In der Ouvertüre markieren die Bläser schon den Draufgänger Falstaff, spielen mit Chromatik und falschem Pomp. In der Introduktion wackelt ein später immer wiederkehrendes Einhorn zur typischen regelmäßig gebildeten Melodien á la Daniel François Esprit Auber über die Bühne.

Falstaff erklärt in seinem Auftritt seinen Bedarf an „denaro“ und darf in seiner Stretta schon hektisches Plapper-Talent offenbaren, während sein Brief bei den Damen ein frappierend an Rossini erinnerndes Ensemble auslöst – kein Wunder, denn jener hat den jungen Iren generös gefördert. So geht es weiter: Cavatinen und Cabaletten nach der Art, wie sie Donizetti vor 1830 schrieb, Duette im spritzigen Rhythmus eines Auber, lichte Lyrismen, die aus Adolphe Adams „Si j‘étais roi“ stammen könnten.

Balfe hat nicht die Raffinesse und Ironie Rossinis, nicht die Melancholie und den lyrischen Schmelz Donizettis, nicht die prickelnde rhythmische Erotik Aubers. Aber er mischt die Ingredienzien, die er aus seiner Zeit entnimmt, zu einem melodisch äußerst reizvollen, wirkungsvollen Personalstil, der diese verdienstvolle Ausgrabung für weitere Aufführungen empfiehlt. Auf die Rezitative hat man in Annaberg-Buchholz wohl zu Recht verzichtet. Für den Kitt zwischen den Musiknummern sorgt ein Zirkusdirektor: Nadja Schimonsky, wunderbar schauspielernd, spricht handfest humorvolle Sentenzen, auch poetische Texte von Shakespeare, liest den Brief Falstaffs an die drei „lustigen Weiber“ als Melodram und zieht fast wie im „Cabaret“ den roten Faden der Handlung. So geraten die knapp drei Stunden zu einem launigen Abend voll anregender Entdeckungslust, der am 29. Dezember noch einmal zur Besichtigung freigegeben ist.

 

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