Amsterdam: „PIQUE DAME“ – Muziektheater 12.6.2016
Vladimir Stoyanov als Tschaikowsky und Misha Didyk als Hermann
Copyright für das Foto: De Nationale Opera
Fünf Jahre nach dem sensationellen Erfolg von Tschaikowskys „Eugen Onegin“ in der Stefan Herheim-Inszenierung unter der musikalischen Leitung von Mariss Jansons (diese Aufführung ist glücklicherweise auf DVD dokumentiert) ist es dem Intendanten der Nederlandse Opera gelungen, das Dreamteam von damals noch einmal zu vereinen, um diesmal Tschaikowskys ebenfalls auf Puschkin basierende Oper „Pique Dame“ auf die Bühne des Muziektheater zu bringen. Nicht zum ersten Mal verquickt Herheim in seiner Inszenierung das Leben eines Komponisten mit der Handlung der Oper. Dies hat er ja schon u.a. bei seinen Produktionen der „Madame Butterfly“ (Volksoper Wien) und „Manon Lescaut“ (Graz/Dresden/Essen) gemacht, bei denen er Puccini auftreten ließ (was seither schon mehrfach – aber weniger glaubhaft – kopiert wurde, u.a. von Marco Arturo Marelli in seiner „Turandot“-Inszenierung).
Stefan Herheim und sein Dramaturg Alexander Meier-Dörzenbach stellen diesmal dem Helden – oder besser gesagt Antihelden – der Oper, Hermann, einem Außenseiter, den Komponisten Pjotr Iljitsch Tschaikowsky gegenüber, der sich lebenslänglich wegen seiner Homosexualität auch als Außenseiter der Gesellschaft gefühlt haben muss. Wenn sich der Vorhang öffnet befinden wir uns in einem großbürgerlichen Salon des 19. Jahrhunderts mit einer großen Bibliothek, einem Flügel, einem riesigen Kristallluster, einer Zimmerpalme. Die ganze Handlung spielt sich in diesem Zimmer ab. In einem Lehnstuhl, mit dem Rücken zum Publikum, sitzt ein junger, nur halbangezogener Mann. Vor ihm kniet ein älterer, grauhaariger Mann. Was die beiden vor Aufgehen des Vorhangs getrieben haben bleibt der Phantasie des Zusehers überlassen. Der jüngere Mann erhebt sich, zieht sich seine Offiziersuniform an und verlangt angewidert von dem älteren Mann Geld. Der jüngere Mann steckt das Geld ein und setzt eine Spieluhr in Form eines Vogelkäfigs in Betrieb, die Mozarts „Ein Mädchen oder Weibchen“ aus der „Zauberflöte“ spielt (womit wohl auf Tschaikowskys Mozart-Bewunderung hingewiesen werden soll). Lachend verlässt der junge Mann den Raum. Und wie ein Vogel im Käfig gefangen ist auch der ältere Mann in diesem Salon. Er setzt sich ans Klavier und beginnt mit der Komposition der Oper „Pique Dame“ (erst hier setzt die Musik ein), denn es ist Tschaikowsky persönlich. Eine Menschenmenge stürmt in den Salon, alle sehen sie aus wie der Komponist und tragen ein Glas mit einer milchigen Flüssigkeit mit sich. Ein Hinweis auf das Ende, das Tschaikowsky ereilen wird (Selbstmord durch das Trinken von choleraverseuchtem Wasser). Der Komponist ist fast die ganze Zeit auf der Bühne, die Vorgänge beobachtend oder reflektierend. Er komponiert am Klavier, er dirigiert den Chor, er händigt den Solisten soeben fertiggestellte Noten aus, er greift immer wieder in die Handlung ein und betätigt sich als Regisseur. Durch die ständige Interaktion des Komponisten mit den Figuren der Oper entstehen auch plötzlich völlig neue Konflikte. Am Ende des ersten Aktes, wenn Hermann in Lisas Schlafzimmer eindringt, erscheint plötzlich durch die offene Balkontür Tschaikowsky und drückt Hermann eine Pistole in die Hand. Wenn Hermann dann, statt zu Lisa, nun zu Tschaikowsky singt „So sprichst du also mein Todesurteil aus!“, bekommt die Situation eine ganz andere Bedeutung.
So wie später Benjamin Britten versucht hat seine Homosexualität in einigen seiner Opern (u.a. „Peter Grimes“ und „Billy Budd“) aufzuarbeiten, tat dies Tschaikowsky mit dieser Oper. Tschaikowsky fühlte sich lebenslänglich zu Männern hingezogen, was lag da näher als Puschkins Erzählung über den spielsüchtigen Offizier Hermann, einen Außenseiter in einer Männerwelt von Soldaten und Offizieren, zu vertonen. Dass er zu dieser Figur eine besondere Liebesbeziehung entwickelt hat (Tschaikowsky vermerkte ja in seinem Tagebuch, dass er schrecklich geweint habe, als er Hermanns Tod komponiert hat), hat wohl zuvor noch kein Regisseur so drastisch dem Publikum vor Augen geführt. Der junge Mann, der zu Beginn in dem Lehnstuhl saß, ist natürlich Hermann. Fast die ganze Zeit ist Tschaikowsky stumm, doch dann beginnt er plötzlich auch zu singen. Er übernimmt die Rolle des Fürsten Jeletzky, der als Lisas Verlobter der Gegenspieler von Hermann ist. Und so wird Tschaikowsky auch in der Oper zum Gegenspieler Hermanns. Wer will hier wen vernichten? Als am Ende des Ballbildes die Zarin erscheint, stürmt der Chor in den Zuschauerraum und fordert das Publikum auf sich von seinen Sitzen zu erheben. Tschaikowsky ist überwältigt vom Auftritt der Zarin und küsst ihr die Hand. Die Zarin ist nämlich niemand anderer als Hermann in Frauenkleidern. Da reißt sich Hermann den Fummel vom Leib; auf diese Weise wird Tschaikowsky von ihm vor der ganzen Welt geoutet und gedemütigt. Am Ende der Oper erscheint die tote Lisa als Todesengel und der Geist der toten Gräfin zwingt Hermann zum Selbstmord. Hermann wird vom Chor umringt. Als sich der Chor wieder zerstreut, liegt Tschaikowsky tot am Boden.
Großartig wie immer das Bühnenbild von Philipp Fürhofer. Der Salon verändert sich fast ununterbrochen, das Zimmer vergrößert sich (mit Spiegelungen werden da großartige Effekte erzielt), aus dem Klavier wird der Sarg der Gräfin, aus dem plötzlich hin und her schwingenden Luster entströmt während der Geistererscheinung Weihrauch. Das Bild über dem Kamin wechselt ständig, einmal ist es nur ein Spiegel, dann das Porträt von Katharina der Großen, dann das von einer Dame (ist es Nadeschda von Meck, die Gönnerin Tschaikowskys, oder soll es das Jugendbildnis der alten Gräfin sein?).
Mariss Jansons am Pult des Königlichen Concertgebouw Orchesters beschert dem Publikum einen Klang, der glänzender und prachtvoller nicht sein kann. Jedes Orchestersolo, jede Orchestergruppe, seien es die Holzbläser, die Blechbläser oder die Streicher, brillieren in einer so noch nie gehörten Form. Jansons lässt die Musik Tschaikowskys fließen, ja atmen und wird nie zu laut (obwohl auch dort das Orchester so hoch sitzt wie in der Wiener Staatsoper). Mit einer ausgewogenen Dynamik unterlegte Jansons den Sängern, die bis in die kleinsten Rollen alle ausgezeichnet waren, einen wundervollen Klangteppich. Ausnahmsweise muss an dieser Stelle der Bariton Vladimir Stoyanov als Erster genannt werden, der nicht nur den Fürsten Jeletzky mit schönem, lyrischem Bariton sang, sondern auch als Tschaikowsky in überzeugender Weise omnipräsent war. Misha Didyk, auch er war darstellerisch sehr gefordert, überzeugte in jeder Hinsicht als Hermann mit seinem kraftvollen Tenor. Über einen strahlenden Sopran verfügt Svetlana Aksenova und über einen sehr virilen, schönen Bariton Alexey Markov (Graf Tomsky). Leider wird die Partie der alten Gräfin oft mit ausgesungenen Sopranen besetzt. Was für eine Freude war es diese Partie endlich wieder von einer erstklassigen Altstimme gesungen zu hören (Larissa Diadkova). Über eine schön Altstimmer verfügt auch Anna Goryachova, die die Polina im Hosenanzug in der Maske des jungen Tschaikowsky sang. Großartig der homogene Chor der Amsterdamer Oper (vor allem die profunden Bässe im Finale) und der Neue Amsterdamer Kinderchor.
Es war eine von jenen seltenen Aufführungen, die einem unvergesslich in Erinnerung bleiben werden. Kein Wunder, dass die Niederländische Oper erst vor kurzem von der Jury der International Opera Awards zum Opernhaus des Jahres gewählt wurde. Aufführungen von einer derart hohen szenischen wie musikalischen Qualität findet man an den sogenannten ersten Opernhäusern heute kaum noch. Da muss man schon nach Amsterdam pilgern.
Walter Nowotny