Allein meine Anreise in Deutschlands hohen Norden geriet schon etwas abenteuerlich. Dank Verspätung auf der Strecke nach Hamburg verpasste ich den eigentlich anvisierten Zug nach Flensburg. Für die 50 Minuten, die ich unerwartet und ohne Mehrkosten am Hamburger Hauptbahnhof verbringen durfte, teilte Amelie Müller – noch unbekannterweise – einen kulinarischen Tipp per WhatsApp mit mir. Gestärkt und optimistisch setzte ich meinen Weg schließlich fort, um dann in Neumünster zu stranden. Die Deutsche Bahn schenkte mir unverhofft noch einen kleinen Ausflug nach Kiel, so dass ich Flensburg schließlich mit etwa 2 ½ Stunden Verspätung erreichte. Die Zeit, die ich für das Interview mit der aus Berlin stammenden Sopranistin eingeplant hatte, war also leider schon vorüber, bevor ich die Stadt überhaupt erreicht hatte. Ich hatte schon vorher in einem Zeitungsartikel gelesen, dass sie keine Zicke ist und tatsächlich einigten wir uns kurzerhand auf einen Ersatztermin am nächsten Morgen.
Seit der Spielzeit 2017/2018 ist sie Ensemblemitglied am Schleswig-Holsteinischen Landestheater, dessen Musiktheater in Flensburg angesiedelt ist. Im Jahr 2014 wurde das Theater wegen drohender Insolvenz in die Rote Liste Kultur des Deutschen Kulturrates aufgenommen. Sparmaßnahmen, gesteigerte Einnahmen und nicht zuletzt Finanzierungszusagen der aus 10 Städten, Kreisen und Gemeinden bestehenden Gesellschafter weisen nun zum Glück auf eine gesicherte Zukunft in den nächsten Jahren hin.
Auf kuriose Weise wurde ich auf Sopranistin Amelie Müller aufmerksam. Beim Besuch des Musicals „Singin’ in the rain“ im Oktober dieses Jahres konnte ich mich nicht nur vom hohen künstlerischen Niveau des Hauses überzeugen, sondern mich auch von der Bühnenpräsenz und Spielfreude Müllers mitreißen lassen. In diesem Stück stellte sie die Stummfilmdiva Lina Lamont dar, die aufgrund ihrer quietschigen Stimme leider zum Gespött des Tonfilms wurde. Wie ist es für eine junge Sängerin, ausgerechnet durch dieses Attribut im Mittelpunkt zu stehen? „Gar nicht so einfach! Als man mir die Rolle anbot, habe ich mich sehr gefreut, weil ich den Film als Kind ungefähr fünfzig Mal gesehen habe. Anfangs dachte ich, dass man Lina Lamont mal so eben singen könnte, aber das stimmt überhaupt nicht. Ich kann das machen ohne mich zu verletzen, aber ich muss mich total konzentrieren und auf spezielle Weise aufwärmen. Es ist eine Show, die sehr gut läuft und bei der eine tolle Dynamik im Publikum herrscht. Je mehr klassische Konzerte und Partien ich aber singe, desto schwerer fällt mir das Switchen. Mein Gesangslehrer hat mir zehn Minuten Entspannungsübungen für die Stimme nach jeder Vorstellung verordnet.“
Man hört fast überall, dass Künstler aus nah und fern nach Berlin ziehen. Amelie Müller ist in Berlin aufgewachsen und hat dort an der Universität der Künste studiert. Sie ging danach den umgekehrten Weg, verließ Berlin und landete schließlich über das Opernstudio Niederrhein in Deutschlands äußerstem Norden. Wie kommt das? „Über meinen Agenten. Er hat mir einerseits das Vorsingen hier verschafft und mir das Haus andererseits auch sehr empfohlen, da er es wegen seines guten Niveaus und der interessanten Projekte schätzt. Meine Mutter kommt aus Bremerhaven und schon allein von der Sprachmelodie her fühle ich mich in Norddeutschland heimisch. Die Nähe zum Meer und die tolle Natur direkt in Stadtnähe tun ein Übriges dazu, dass ich mich hier sehr wohl fühle. Schon zu Beginn meiner Arbeit am Landestheater habe ich sofort gemerkt was für ein freundliches und kollegiales Ensemble wir hier sind. Ich habe mich auch im Kollegenkreis sofort heimisch gefühlt. Auch in der Spielzeit 2019/2020 werde ich noch hier am Haus sein und voraussichtlich Rollen singen, die perfekt zu meiner Stimme und zur Karriereentwicklung passen werden. Aus heutiger Sicht kann ich nur jedem jungen Sänger raten, Berlin zu meiden. Die Konkurrenz dort ist so groß, dass einem als junger Künstler kaum Raum zur Entfaltung bleibt. Für etablierte Sänger und Stars macht es hingegen sicher Sinn, den Weg in die Hauptstadt zu gehen.“
Am Landestheater steht im Januar 2019 Amelie Müllers Debut als Gräfin Mariza auf dem Spielplan. Als Koloratursopran hat man doch eigentlich eher andere Herausforderungen im Kopf, oder nicht? „Ich finde, dass Operette nicht nur qualitativ unterschätzt wird. Es wird auch unterschätzt, wie schwer das Genre überhaupt zu singen ist. Wir haben heute oft große Orchesterbesetzungen und dazu sehr textlastige Gesangspassagen, bei denen oft auch lyrische Stimmen Probleme haben, über das Orchester zu kommen. Kálmán ist berüchtigt für seine dicken Instrumentierungen. Meines Erachtens werden Operetten heute häufig zu leicht besetzt. In meinem Fall werden wir noch herausfinden, ob die Stimme zu leicht ist, oder gerade schwer genug. Ich bin ganz zuversichtlich, dass ich das hinkriege, aber ich bin bestimmt nicht die typische Mariza. Vor kurzem habe ich noch Olympia und GePoPo (Le Grand Macabre) gesungen und in dieser Spielzeit nun die Mariza. So etwas wäre an einem größeren Hause kaum möglich. Wenn man damit richtig umgeht und mit den Kräften haushält, dann lernt man sehr viel fürs Leben.“
Ich könnte mir gut vorstellen, dass auch die Traviata für später auf der Wunschliste der zu singenden Rollen stehen könnte. „Das ist eine der Rollen, die ich jetzt noch als große Herausforderung einstufe, aber auf die ich total Lust hätte. Vor Traviata gibt es ja noch einige italienische Damen wie beispielsweise Lucia, die auch richtig super wären. Ich habe sehr gerne Rossini gesungen. Seine Musik entspricht ziemlich meinem eher gut gelaunten Naturell. Es hat mir richtig Spaß gemacht, die Koloraturen abzufetzen. Auch Oscar in Maskenball hat mir riesige Freude bereitet. Die Musik von Verdi ist grandios, dennoch kann ich nicht wirklich einen Lieblingskomponisten nennen. Ich konzentriere mich immer auf das, was ich gerade singe und in diesem Moment ist der Komponist des jeweiligen Werks dann auch mein Lieblingskomponist.“
In Flensburg wird durch auf Kinder zugeschnittene Opernproduktionen das Publikum von Morgen an die Kunstform Oper herangeführt. In einer Adaption der Cenerentola steht die Berliner Sopranistin oft vor Kindern auf der Bühne. „Der Zulauf ist sehr gut und oft haben wir Kindergruppen in der Vorstellung, die vor Begeisterung ausflippen. Das Konzept ist darauf ausgelegt, dass die Kinder dazwischen rufen und mit uns Sängern interagieren. Schwieriger wird es bei den Nachmittagsvorstellungen, in denen oft einzelne Kinder mit zwei Erwachsenen im Publikum sitzen. Da sorgen die Eltern dann meistens dafür, dass sich ihre Sprösslinge gesittet benehmen. Unsere Version richtet sich an Kinder im Alter von sechs bis zehn Jahren. Wir haben eine Stunde Spielzeit, davon ist eine halbe Stunde Musik durch die die Kinder an klassische Kompositionen herangeführt werden. Auf der Bühne wird auch viel getanzt.“
Bei den Donaufestwochen im österreichischen Grein trat Frau Müller in diesem Sommer in der Händel Oper Atalanta auf. „Die Presse“ widmete ihr in ihrer Rezension sogar eine eigene Zwischenüberschrift und attestierte ihr unter anderem einen klanglich fülligen, aber tadellos agilen Sopran mit außergewöhnlich sinnlicher, modulationsfähiger Strahlkraft. „Das war eine spannende und technisch aufwendige Inszenierung mit vielen Videoproduktionen. Wir haben in Kameras gesungen und das daraus entstehende Bild wurde in Echtzeit für die Zuschauer in einen computeranimierten Film projiziert. Ich habe die Zeit in Österreich sehr genossen und auch das dortige Publikum sehr schätzen gelernt. Obwohl wir nicht an einem der bekannten Opernhotspots aufgetreten sind, war die Aufmerksamkeit der Medien phänomenal und auch die Zuschauer sind sehr sachkundig und haben sich größtenteils gewissenhaft auf die Oper vorbereitetet. Ich hatte das Gefühl, dass die ganze Stadt hinter der Organisation der Festwochen steht und Kultur in Österreich einen extrem hohen Stellenwert hat.“
Als ich davon erzähle, dass ich gerne zum Flensburger Konzert von Annette Dasch kommen würde, sprudelt aus Amelie Müller pure Begeisterung heraus: „Ich liebe Annette Dasch, sie ist nicht nur klug und witzig, sie singt auch schön und ist für mich eine große Inspiration. Sie kommt wie ich aus Berlin und ist neben der großen Joan Sutherland eines meiner Vorbilder. Ich finde sie extrem sympathisch. Ich möchte, dass sie meine beste Freundin wird. Schöne Grüße an Annette!“
© Marc Rohde, Dezember 2018