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ALTENBURG/ GERA: DAS TAGEBUCH DER ANNE FRANK. Monooper in zwei Akten. Premiere

19.10.2020 | Oper international

Gera: Das Tagebuch der Anne Frank. Mono-Oper in zwei Akten

17.10.2020 – Theater Altenburg Gera

Schon Eleanor Roosevelt nannte Anne Franks Tagebuch eines „der weisesten und bewegendsten Kommentare zum Krieg und seinen Auswirkungen auf den Menschen“. Der russische Komponist, Maler und Schriftsteller Grigori Frid (1915-2012) hat dieses an sich schon berührende Zeitdokument einfühlsam und den Gefühlsregungen nachspürend für eine Aufführungsdauer von 60 Minuten vertont (Deutsche Textfassung von Ulrike Patow). Am 17. Oktober 2020 hatte Frids Mono-Oper am Theater Altenburg Gera in einer Inszenierung von Felix Eckerle Premiere.

Grigori Frid studierte am Moskauer Konservatorium Komposition bei Heinrich Litinski und Wissarion Schebalin und orientierte sich in seinem künstlerischen Schaffen an Werken von Dmitri Schostakowitsch, Igor Strawinsky, Arnold Schönberg und Alban Berg. Er verband serielle und tonale kompositorische Verfahren und kombinierte Leitmotiv- mit Clustertechnik. Seine Vorliebe für die dunkle Farbgebung der Instrumente und elegische Stimmungsbilder findet auch Ausdruck in seiner 1969 entstandenen, 1977 szenisch in Sverdlovsk aufgeführten und in deutscher Erstaufführung 1993 in Nürnberg aus der Taufe gehobenen Oper.

In besagter Oper steht in 21 musikalischen Sätzen das Seelenleben von Anne Frank (1929-1944) im Mittelpunkt, die ab ihrem 13. Geburtstag am 12. Juni 1942 bis zu ihrer Deportation in verschiedene Konzentrationslager am 1. August 1944 ihre Erlebnisse, Gefühle und Gedanken dokumentarisch verarbeitete. Dieses Tagebuch, das sie als ihre beste Freundin „Kitty“ taufte, wurde zu Anne Franks Vertrautem und in der Nachwirkung zum bedeutendsten Zeitzeugendokument der Geschichte des 20. Jahrhunderts.

Anne Frank musste nach ihrer Emigration von Deutschland in die Niederlande ab dem 6. Juni 1942 in einem Versteck in der Prinsenkracht 263 untertauchen, da sie als Jüdin von den Nationalsozialisten verhaftet und in ein Konzentrationslager deportiert werden konnte. Außer Anne Frank und ihrer Familie lebten später auch Hermann van Pels, ein Mitarbeiter ihres Vaters, und dessen Frau Auguste und Sohn Peter, in den sich Anne alsbald verliebte, sowie der jüdische Zahnarzt Fritz Pfeffer mit im Versteck. In diesem einengenden Alltag kam es zum Zank über Kleinigkeiten, zur ersten Verliebtheit in den Schicksalsgenossen Peter, entstanden Gedanken über den Krieg und den Drang des Menschen zu vernichten. Nach Verrat des Verstecks und der Verhaftung am 4. August 1944 starb Anne Frank im März 1945 im Konzentrationslager Bergen-Belsen. Einziger Überlebender dieser Schicksalsgemeinschaft war Annes Vater Otto Frank, der das Tagebuch von seiner ehemaligen Mitarbeiterin und Helferin Miep Gies (1909-2010) erhielt und veröffentlichte. Anne Franks Schicksal steht stellvertretend für etwa eineinhalb Millionen ermordete jüdische Kinder.

Als Libretto der Oper dienen die originalen Tagebuchaufzeichnungen von Anne Frank, die gekürzt und mehrfach übersetzt wurden und sich dadurch zu Paraphrasen entwickelten.

Im Großen Saal des Geraer Theaters saß leider nur wenig Publikum in weiten pandemiebedingten Sitzabständen, wobei eine Reihe stets frei blieb.

Das Kammerorchester unter der musikalischen Leitung von Gerald Krammer saß auf der Bühne verteilt und spielte diese dramatische Neue Musik exzellent. Die australische Sopranistin Maja Andrews, ein Mitglied des Thüringer Opernstudios, interpretierte diese kräftezehrende Partie Nuancen abwägend und tief gefühlt und brachte die geistige und seelische Entwicklung des jungen Mädchens zur Frau und ihre Verzweiflung und Hoffnung glaubwürdig rüber. Als Bühnenbild (Bühne: Christian van Loock) diente eine drehbare räumliche schiefe Ebene mit aufgedruckten Tagebuchseiten. Auf Requisiten wurde verzichtet. Andrews gekleidet in den Stil der 1940er Jahre, trug als Anne Frank eine rote Strickjacke, ein hellblaues Kleid mit Bubikragen und dicke Wollsocken, später ein blaues Unterkleid (Kostüme: Hilke Lakonen).

Anfangs rezitierte Andrews im Sitzen die ersten Tagebuchaufzeichnungen, wobei leider die oftmals sehr undeutliche Diktion das Verständnis der Aussagen erschwerte, da weder Über- noch Untertitel einbezogen wurden. Hier sollte nachjustiert werden. Sie berichtete von Annes Vater, der immer öfter zu Hause sei und mit Anne bereits über einen geheimen Unterschlupf der Familie gesprochen hatte, was Anne in Verzweiflung versetzte, die durch Andrews unruhiges Hin- und Herlaufen auf der Bühne verbildlicht wurde.


 Sopranistin Maja Andrews als noch kindlich-fröhliche Anne Frank (Foto: Ronny Ristok)

Der nächste vorgetragene Eintrag stammte schon aus dem Versteck von Samstag, dem 11. Juli. Maja Andrews als Anne lag auf dem Boden und erzählte von ihren Problemen im Versteck, begleitet vom Glockenschlag des Orchesters. Die im Versteck herrschende Stille machte sie nervös, die Angst nahm zu, sie stand auf und sah sich um, verfiel in teilweise gesprochene Monologe.

Am Freitag, den 16. Oktober dachte Andrews als Anne Frank bereits an die Veröffentlichung des Tagebuchs, Marschrhythmen mit deutlicher Akzentuierung des Schlagzeugs konterkarierten das ängstliche Umherlaufen Andrews auf der sich drehenden räumlichen schiefen Ebene. Anne Frank träumte, ihrer Freundin ginge es schlecht „und ich kann ihr gar nicht helfen“, in Verzweiflung hin und herlaufend, schickte sie ein Gebet zu Gott, unterstützt von der bewegungsvollen, rastlosen Musik, die ihre Verzweiflung förmlich körperlich spürbar machte. Andrews zog die Schuhe aus und warf sie von sich, kauerte sich hin und legte mutlos den Kopf auf die Knie. Es wurde still im Saal, die Musik schwieg, in die atemlose Stille des Publikums hinein, wurden Anne Franks Fotos auf die schiefe räumliche Ebene projiziert (Video: René Grüner). Nun zog Anne Frank auch die Strümpfe aus, die Musik nahm an Schwung zu. Anne wurde überschwänglich und spielte Theater, die Strümpfe über die Arme gezogen, zwei Gesprächspartner mimend.

Mittwoch, der 4. August 1943 setzte ein. Anne Franks Angst nahm zu, sie zog ihre Strickjacke aus und dachte an Peter, zu dem sie sich hingezogen fühlte und berichtete von ihren diesbezüglichen Gefühlen. Andrews legte sich hin, die aufkeimende Liebe machte sie zur immer ernsthafter werdenden Frau.


Anne Frank wird durch die Liebe zu Peter erwachsen (Foto: Ronny Ristok)

Die Bühne wurde in rotes Licht getaucht, erneut marschierte Andrews zu einsetzender Marschmusik, denn sie hoffte auf einen Sieg von Russland über Deutschland, auf ihre Befreiung aus der Ausweglosigkeit. Da klopfte es laut und vernehmlich, Annes Schatten erschien auf der Wand. In der Musik wurden Schritte hörbar, die immer näherzukommen schienen, als Anne aus nahezu greifbarer Angst die Hände vor den Mund nahm, entfernen sich die musikalisch auskomponierten Schritte wieder und wurden leiser bis sie endlich verklangen. Anne wurde bewusst: „noch nie war die Gefahr für uns so groß gewesen“. Sie sinnierte über ihre einsame Jugend, für die aufgrund fehlender Lebenserfahrung die Ausweglosigkeit der Situation viel schwerer zu ertragen sei, als für Erwachsene, so dachte sie. Anne hatte die Hoffnung noch nicht verloren, doch sank sie zusammen, raffte sich aber wieder in die Höhe, suchte den erlösenden Weg in die Freiheit. Es wurde hell und die schiefe räumliche Ebene begann sich zu drehen. Anne blickte in die Ferne, in die Sonne und setzte sich, dachte an ihren Lieblingsplatz am Kastanienbaum, denn: „Wenn ich in den Himmel schaue, denke ich, dass all diese Grausamkeiten auch mal ein Ende haben“.


 Anne Frank spürt den Ernst der Lage, verliert aber nicht den Mut (Foto: Ronny Ristok)

Sie sprach sich gut zu, um den Mut zu behalten, zog das blaue Kleid aus und stand nur noch im Unterkleid vom Licht bestrahlt in der Hoffnung auf die Zukunft. Bloß und verletzlich, fast nur noch das nackte Leben rettend, stand sie da als ein Glockenschlag ertönte, der wohl die Entdeckung ihres Verstecks und damit völlige Hoffnungslosigkeit andeutete. Andrews verließ die Bühne, nur die ausgezogenen Anziehsachen waren, bildhaft gesprochen, von Anne Frank zurückgeblieben.

Maia Andrews packende, glaubwürdige und zutiefst fesselnde Interpretation dieses ernsten Stoffes, durch die Annes Entwicklung nachvollziehende von der sehnsüchtigen, zum forschen, unbeschwerten, grotesken gleitenden Musik, tönend unterstützt, machte diese Aufführung zu einem empfehlenswerten und unvergesslichen Erlebnis. Einziges Manko war die teilweise starke Unverständlichkeit der Sprache. Für den Geschichtsunterricht der elften und zwölften Klassen kann diese Mono-Oper einen bereichernden, weil emotional erlebbaren Zugang eröffnen. Nach einer Stille der Besinnung erscholl gewaltiger Applaus für alle Beteiligten. Eine unbedingte Empfehlung!

Dr. Claudia Behn

 

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