ALEXANDER MELNIKOV: Four Pieces – Four Pianos; harmonia mundi CD
Eine schöne Idee und aufschlussreiche Hörbegegnungen eint die neue CD des russischen Pianisten Alexander Melnikov. Er wählt vier verschiedene Werke der Früh- und Hochromantik sowie der Neoklassik und spielt sie auf historischen Instrumenten bzw. einem modernen Steinway. Melnikov hat keine Ambition, historisch korrekt vorzugehen und merkt an, das die Entscheidung, worauf man spielen möchte, wesentlich leichter zu fällen ist als die, wie man spielt. In einer klugen Analyse hält er fest: „Historisch informierte Aufführung wurde aus dem Blickwinkel der politischen Korrektheit geprägt, nachdem erst die Bezeichnung „authentisch“ und sodann der Begriff „original“ als nicht mehr zeitgemäß verworfen wurden. … Hinzu kommt, dass selbst ein kurzer Blick auf die Jahre seit der Erfindung der Tonaufnahme genügt, uns mit dem Ausmaß, der Geschwindigkeit und der Vielfalt der Veränderungen in Ästhetik und musikalischem Geschmack zu verblüffen.“ Alles an unserer Wahrnehmung musikalischer Interpretation ist somit relativ zu Moden, Tradition und bewussten Brüchen damit.
Melnikov interessiert, dass die Stücke der vorliegenden Aufnahme zur Zeit ihrer Entstehung den Ruf hatten, aufgrund ihrer hohen pianistischen Anforderungen praktisch unspielbar zu sein und wollte sich darauf besinnend höchstpersönlich auf eine pianistische Spurensuche mithilfe folgender Klaviere begeben: Franz Schuberts „Wanderer-Fantasie“ D. 760 erklingt auf einem Wiener Alois Graff, Frédéric Chopins „12 Étuden“ Op. 10 auf einem Èrard, Paris 1837, Franz Liszts „Réminiscences de Don Juan“ auf einem Bösendorfer, Wien 1875, und Igor Stravinskys „Trois Mouvements de Pétrouchka“ auf einem Steinway & Sons, 2014.
Die technischen Möglichkeiten der Instrumente, ihr Tonumfang, die Anzahl der Pedale und Extras sind genau so verschieden und individuell ausgeprägt wie die vier von Melnikov gespielten Stücke. Melnikov umgeht das „Akademische“ des Konzepts durch sein vor Perfektion, aber auch virtuoser Schärfe strotzendes Spiel. Mag auch jede Phrase, jede noch so kleinste dynamische Nuance der CD durchdacht sein, ist Melnikov im Grunde ein instinktiver Musiker, der sich in den Eingeweiden der Partituren zu schaffen macht. Die klanglichen Charakteristika des fabulösen Fortepianos von Alois Graff mit seiner Prellmechanik, der erhöhten Saitenspannung, der größeren Entfernung zu den Tasten erlauben es dem Hörer, der vielleicht faszinierendsten Aufnahme der Wanderer-Fantasie überhaupt zu lauschen. Auch Chopins Étuden erwächst durch den gläsernen Klang des Érard eine einzigartig dekadente Salonatmosphäre. Gleichzeitig rückt Melnikov die Temporelationen in der E-Dur Etüde Nr. 3 zurecht, die in der interpretatorischen Rezeption dieses populären Stücks meist viel zu langsam gespielt wurde.
Fazit: Eine lustvolle Erkundung pianistischer Techniken mit rigider Detailarbeit und überraschend “unorthodoxen” künstlerischen Ergebnissen. Schubert, Chopin, Liszt und Stravinsky in neuem Licht!
Dr. Ingobert Waltenberger