Zu Beginn der neuen Saison 2022/23 erhielt unser Redakteur Dirk Schauß die Gelegenheit mit dem Chefdirigenten des hr-Sinfonieorchesters, Alain Altinoglu, zu sprechen.
Das Gespräch wurde in englischer Sprache geführt.
Alain Altinoglu. Copyright: hr/Ben Knabe
DS:
Hr. Altinoglu, vielen Dank, dass Sie sich die Zeit für unser Gespräch nehmen. Wir stehen am Beginn Ihrer zweiten Spielzeit als Chefdirigent mit dem hr-Sinfonieorchester. Wie war Ihr Beginn hier in Frankfurt?
AA:
Es war schwierig durch die Pandemie. Viele Veranstaltungen wurden abgesagt. Auf der anderen Seite konnten wir uns glücklich schätzen, Teil des Rundfunks zu sein. Daher konnten wir trotzdem spielen, weil wir unsere Konzerte als Streaming senden konnten. Es war also etwas seltsam. Von Anfang an hatten wir eine gute Atmosphäre der Gemeinsamkeit und konnten uns daher gut kennenlernen. Aber um ehrlich zu sein, es war nicht eine erste Saison, wie sie sich unter normaleren Umständen gestaltet. So hoffe ich, dass uns dies nun mit dieser Spielzeit gelingt. Ich hoffe es sehr.
Je besser man ein Orchester kennenlernt und feststellt, was gut funktioniert und wie man es unterstützen kann, noch besser zu spielen, umso erfreulicher ist das Ergebnis. Ich fühle mich sehr wohl hier. Es ist ein großartiges Orchester.
DS:
Ich kenne dieses Orchester und seine Chefdirigenten sehr gut seit meiner Kindheit. Es ist ein sehr flexibler Klangkörper. Was mir früh auffiel, ist das gute Einvernehmen zwischen dem Orchester und Ihnen.
AA:
Ja, tatsächlich ist es so, und Sie als Psychologe wissen, dass es sehr schwierig ist, das zu erklären. Manchmal wirkt es wie Zauberei.
Ich bin in Paris aufgewachsen und manchmal erlebte ich Dirigenten, die waren fabelhaft mit dem Orchestre National de France und dann aber furchtbar mit dem Orchestre de Paris. Tja, warum sind solche Unterschiede möglich? Schwer zu sagen….
DS:
Was sind Ihre Pläne mit dem hr-Sinfonieorchester? Was sehen Sie am Horizont Ihrer gemeinsamen Arbeit?
AA:
Als Chefdirigent versuche ich das große Standardrepertoire abzudecken. In den nächsten Jahren bedeutet dies: Musik aus Deutschland, Frankreich, Russland usw.
Mir ist es wichtig, dass das Orchester hierzu einen individuellen Zugang hat, um den jeweiligen stilistischen Anforderungen gerecht zu werden. Bernstein sagte einmal: „
Als Dirigent muss man versuchen, der Komponist zu sein, dessen Musik man gerade interpretiert.“
Für ein Orchester erscheint mir das wichtig, insbesondere weil auch das Level eines jeden Instrumentalisten so hoch ist, die geeigneten Farben zu finden. Aber natürlich sollte der Dirigent die Biografie und den Stil eines Komponisten gut kennen, um dies an das Orchester weiterzugeben.
DS:
Sprechen wir über das erste Programm dieser Saison. Rachmaninows drittes Klavierkonzert und die Scheherazade von Rimski-Korsakow.
AA:
Ich liebe dieses russische Programm und insbesondere diese beiden Werke. Scheherazade habe ich sehr, sehr oft dirigiert. Mit diesen Werken kann ich mit dem Orchester sehr viel am Klang modulieren. Und jedes Mal, wenn ich diese Stücke dirigiere, dann ist es eine neue Erfahrung.
Scheherazade lässt sich sehr unterschiedlich interpretieren. Es ist von vielen Faktoren abhängig: der eigenen Lebensentwicklung oder selbst von einem zum anderen Konzert kann es anders sein. Diese Suite erinnert mich manchmal an eine Oper. Diese Musik ist so reich an Farben und bietet sehr viel Raum für die eigene Fantasie.
DS:
Ist die Scheherazade für Sie „Programm-Musik“?
AA:
Nein. Er wie auch Gustav Mahler hat sein ursprüngliches Programm widerrufen. Die Motive und Themen sind so stark und sprechen für sich selbst, so dass mit diesen Leitmotiven allein schon eine gute Orientierung gelingt.
Im Vergleich dazu ist der „Zauberlehrling“ von Paul Dukas wirklich ein Werk der „Programm-Musik“.
DS:
Scheherazade ist für jedes Orchester ein Feuerwerk, und zwar für alle Spielgruppen.
AA:
Oh ja, das stimmt. Es ist sehr virtuos geschrieben und Streicher, Holz- und Blechbläser haben viele anspruchsvolle Soli.
DS:
Aber auch für das Schlagzeug!
AA:
Ja, diese haben sehr viel zu tun.
Und dann haben wir diesen großen Kontrast mit Rachmaninow, eine ganz andere Musik. Heute Morgen sagte ich zum Orchester: „mehr Zucker“! Auch braucht es wieder viele Farben, was wunderbar ist.
DS:
Es gab eine große Überraschung, weil der ursprünglich vorgesehene Pianist, Evgeny Kissin krankheitsbedingt absagen musste.
AA:
Oh, das war in der Tat eine große Überraschung. Als ich in Salzburg war, sagte Kissin bereits dortige Verpflichtungen ab. Und es ist verständlich, denn das dritte Klavierkonzert von Rachmaninow ist eines der schwersten Konzerte seiner Gattung.
DS:
Der Mount-Everest für einen Pianisten.
AA:
So ist es! Dennoch bin ich sehr glücklich mit der Lösung, die wir finden konnten. Mit dem sehr jungen Alexander Malofeev haben wir einen wunderbaren Ersatz. Obwohl er erst 20 Jahre jung ist, gehört er bereits zu den großen Pianisten der heutigen Zeit. Ich mag es, junge Musiker zu unterstützen.
DS:
Haben Sie ein festes interpretatorisches Konzept, wenn Sie ein Werk dirigieren oder probieren Sie gerne von Konzert zu Konzert neue Dinge aus?
AA:
Das hängt vom Orchester ab. Wenn eine gute Beziehung zwischen dem Orchester und dem Dirigenten besteht, auf Vertrauen basierend, dann ergibt das einen Rahmen, den man auch einmal verlassen kann. Ich mag es nicht, alles streng festzulegen, darunter leidet die Spontaneität. Dazu kommt, dass ich immer sehr aufmerksam sein muss, wie ich die Instrumentalisten eines Orchesters bestmöglich unterstütze.
DS:
Sie haben ein sehr großes Repertoire.
Welche Komponisten haben Sie noch nicht entdeckt, von denen Sie denken, dass sich damit unbedingt beschäftigen wollen?
AA:
Es gibt einige Werke, die mich sehr interessieren, für die mich aber noch nicht bereit fühle, z.B. Mahlers neunte Sinfonie.
Es wäre noch zu früh, obwohl ich bereits seine Sinfonien eins bis sechs dirigiert habe.
Auch bei Bruckner habe ich noch nicht alle Schlüssel zur Hand, um sich das Werk komplett zu erschließen. Ich warte, bis ich mich sicher fühle.
Bei der Oper gibt es auch Werke, bei denen ich lange gezögert habe, wie z.B. Offenbachs „Hoffmanns Erzählungen“. Hier habe ich zwanzig Jahre gewartet, bis ich mich bereit fühlte. Mir fehlte der Zugang, weil es auch so viele Fassungen davon gibt.
Tondichtungen von Richard Strauss würde ich gerne machen. Zum Beispiel habe ich noch keinen „Zarathustra“ dirigiert. Und das möchte ich gerne ändern.
DS:
Was ist mit Tschaikowsky?
AA:
Ich habe seine drei letzten Sinfonien dirigiert. Ich liebe vor allem seine Opern. In Brüssel gibt es in dieser Spielzeit seine beiden bekanntesten Opern „Pique Dame“, die gerade unter der Leitung von Nathalie Stutzmann Premiere hatte und dann kommt „Eugen Onegin“.
DS:
Nochmal zurück zu Mahlers neunter Sinfonie. Die Musik von Mahler steht mir sehr nahe, und ich habe sie intensiv studiert. Ich denke, es ist nicht notwendig für Sie, auf eine Zeit der Reife zu warten.
AA:
Stimmt. Vielleicht bin ich auch jetzt schon bereit. Meine Aussage ist auch geprägt von Hörerfahrungen mit Dirigenten, bei denen mir erlebtes Leben fehlte.
Mahler hatte so viele Leidenserfahrungen, die sich in seiner Musik wiederfinden. Und dann gab es seinen seltsamen Umgang mit der neunten Sinfonie, weil er seinen eigenen Tod befürchtete, wenn er an diesem Werk schreiben würde.
Man muss dieses Werk wirklich tief ergründen.
DS:
Alle Sinfonien Mahlers haben ihre Herausforderung durch die geballte emotionale Wucht und Dichte. Und die neunte Sinfonie ebenso wie die verschiedenen Versionen der zehnten Sinfonie haben den Zusatz der „Jenseitigkeit“. Eine andere Dimension tut sich da auf.
AA:
Ja, genau und damit muss man sich erst einmal verbinden können. Es ist sehr schwer.
DS:
Wenn das ausbleibt, ist es pure Oberflächlichkeit.
AA:
Genauso ist es. Und das will ich vermeiden. Nur an der Oberfläche zu sein, wird der Musik nicht gerecht.
Natürlich kann ich sie dirigieren, das ist „technisch“ kein Problem, aber das reicht nicht.
Ich denke da auch an meinen ersten „Parsifal“. Natürlich war ich glücklich über diese Gelegenheit. Aber ich fühlte auch, dass ich noch nicht alle Dimensionen erreichen konnte, weil es eben das erste Mal war.
DS:
Wenn wir in Ihre nahe Zukunft schauen, dann warten spannende Herausforderungen auf Sie.
Da kommt für Sie in Brüssel zum ersten Mal Glières gewaltige dritte Sinfonie „Ilya Muromets“ für Sie. Ein sehr unterschätztes Werk, finde ich.
AA:
Richtig. Es ist sehr schwer zu spielen, sehr lang, und ein riesiges Orchester ist dafür notwendig.
In Brüssel haben wir eine Reihe unter dem Titel „Synergie“. Hier führen wir zwei Orchester zusammen, die ein großes Werk gemeinsam aufführen. Und so schauen wir immer nach geeigneten Stücken, und da wir eine russische Saison in Brüssel spielen, dachte ich, es wäre eine attraktive Ergänzung. Meines Wissens gab es dieses Stück noch nicht in Brüssel.
DS:
Oh, Sie sollten es unbedingt in Frankfurt aufführen, da es hier auch unbekannt ist.
AA:
Wir werden es versuchen.
DS:
Und die größte Herausforderung im Bereich der Oper wird Ihr erster „Ring“ sein, den Sie in Brüssel mit Regisseur Romeo Castelucci realisieren.
AA:
Ja, wir starten nächste Spielzeit damit. Pro Spielzeit zwei Opern der Tetralogie. Natürlich kann ich Ihnen nichts über die Ideen sagen, aber es wird ein s e h r spezieller „Ring“ werden. Ich liebe Wagner. Natürlich freue ich mich sehr darauf.
Was kann ich Ihnen dazu sagen, was Sie noch nicht wissen?
DS:
Mir geht es eher um die Interpretation. Es gibt Dirigenten, die den „Ring“ sehr symphonisch anlegen, andere Interpreten bevorzugen die Transparenz etc.
AA:
Für mich ist es am besten, wenn es mir gelingt, die verschiedenen Ebenen zusammenzubringen. Ich möchte da gar nicht nur eine Ebene betonen.
Schauen Sie, es gibt Regisseure, die den „Ring“ als Gesellschaftskritik darstellen. Dann gibt es andere Interpretationen, da stehen die sich die Kräfte und Machtverhältnisse gegenüber. Mir wäre das zu restriktiv. Wagner war so klug, viel größer zu denken.
Was ich überhaupt nicht mag, einen „Ring“ zu hören, bei den die Sänger kaum zu hören sind. Das ist eine Katastrophe.
Dennoch ist das Orchester im „Ring“ zentral, denn es führt die Gedanken der Sänger weiter. Das ist so großartig. Es kommt alles zusammen: Dramaturgie, Text, Gesang und Orchester.
Auch das Verhältnis zum Regisseur ist sehr wichtig. Wir müssen an einem Strang ziehen.
Es ist nicht schwierig für mich, wenn ein Regisseur ein Stück anders verortet, aber es muss mit der Musik zusammengehen. Leider gibt es auch viele Regisseure, die sich nicht mit der Musik verbinden können. Mit Castelucci ist das anders, weil er die Musik sensibel empfindet.
DS:
Sie haben überall in der Welt dirigiert. Gibt es noch offene Träume?
AA:
Das ist eine interessante Frage. Ich habe niemals in meinem Leben in diesem Sinn überlegt. Ich bin sehr glücklich, wenn ich Musik machen kann und freue mich über das, was zu mir kommt.
Natürlich fühlt man sich gut, wenn man die Berliner oder Wiener Philharmoniker dirigiert. Das ist eine beflügelnde Motivation, die einen wachsen lässt. Ich versuche, immer besser zu werden, aber nehme die Dinge, wie sie kommen. Bayreuth war wunderbar, und vielleicht kehre ich zurück.
DS:
Wenn Sie auf Ihre Karriere blicken, gab es Vorbilder?
AA:
Viele, z.B. Furtwängler! Die Tiefe und Größe seiner Interpretationen beeindrucken mich. Aber sehr unterschiedliche Dirigenten beeinflussten mich ebenso, z.B. Pierre Boulez oder Georges Prêtre.
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DS:
Gibt es ein persönliches Credo?
AA:
Sei Dir immer bewusst, wer Du bist und versuche zu wachsen, um besser zu sein!
DS:
Vielen Dank für das schöne Gespräch.
Dirk Schauß, im September 2022