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ADRIAN NOBLE: Die Aufgabe eines Regisseurs besteht darin, ein Werk zum Leben zu erwecken, und nicht sich selbst in Szene zu setzen

Adrian Noble: Die Aufgabe eines Regisseurs besteht darin, ein Werk zum Leben zu erwecken, und nicht sich selbst in Szene zu setzen

(Juni 2019 / Renate Publig)


Adrian Noble bei den Proben zu Otello © Wiener Staatsoper / Michael Pöhn

 Bereits die dritte Regiearbeit bestreitet der Brite Adrian Noble an der Wiener Staatsoper, und er ist wahrlich prädestiniert für die letzte Premiere der Saison 2018/19: Der ehemalige Leiter der Royal Shakespeare Company setzt Verdis vorletzte Oper Otello in Szene.

 

Willkommen zurück an der Wiener Staatsoper! Verdis „Otello“ ist die dritte Oper, die Sie hier inszenieren, nachdem Sie 2010 in Händels „Alcina“ und 2015 in „Hänsel und Gretel“ Regie führten. Drei Opern, die unterschiedlicher nicht sein könnten, sowohl was die Geschichte, das Drama, aber auch die Musik betrifft. Was hat Sie an diesen dreien fasziniert?

 

„Alcina“ war ein Geschenk für mich, denn zur gleichen Zeit inszenierte ich „Serse“ am Theater an der Wien, und ich leitete in den USA, eine Produktion „The Madness of George III“ mit Musik von Georg Friedrich Händel. Eine glückliche Fügung, zur gleichen Zeit drei Mal intensiv mit Händel zu tun zu haben!
Im folgenden Frühling, als ich zur Generalprobe der Wiederholungsserie von „Alcina“ kam, bot mir Dominique Meyer an, „Hänsel und Gretel“ zu inszenieren. Auf diese Oper wäre ich nie gekommen! Doch Märchen und Mythen interessieren mich. Christian Thielemann sollte das Werk dirigieren, ich setzte mich sofort mit ihm in Verbindung. Ich erklärte ihm meine Ideen und wir entdeckten, dass wir ähnliche Vorstellungen zu diesem Werk hatten.
Meine dritte Arbeit, Otello, war von den drei Werken aufgrund meines Backgrounds die naheliegendste Oper! (lacht)

 

Ihr Background … Sie waren unter anderem von 1990 bis 2003 künstlerischer Leiter der Royal Shakespeare Company. Wo liegen für Sie die Unterschiede zwischen dem Inszenieren am Theater und an der Oper, der Arbeit mit Sängern oder mit Schauspielern? Abgesehen natürlich vom offensichtlichen Unterschied, der Musik.

 

Beiden Gattungen ist eines gemeinsam: Sie bestehen aus Formen und Strukturen. Bei Shakespeare sind es die Verse und Prosa, in der Musik die Takte, die Tonarten. Bei Otello findet man Parallelitäten, da Verdi Shakespeare verehrte. Er verwendet nicht nur die Geschichte per se, sondern auch die Dramaturgie. Und das gilt nicht nur für Otello, sondern auch für Don Carlo, wo Verdi Schiller folgt. Vom strukturellen, dramaturgischen Blickwinkel gibt es daher Ähnlichkeiten in der Inszenierung des Theaterstücks oder der Oper.

Bei der konkreten Arbeit besteht ein Unterschied zwischen Sängern und Schauspielern. Sänger müssen mit zwei Personen, mit dem Regisseur und dem Dirigenten kooperieren. Das muss ein Schauspieler klarerweise nicht. Doch das Spannende: Sänger haben manche Partien bereits in zehn, fünfzehn verschiedenen Produktionen gesungen. Dieses Phänomen ist bei Schauspielern sehr unüblich! Die spielen eine Rolle innerhalb einer Aufführungsserie zwar öfter als ein Sänger, manchmal sogar über ein ganzes Jahr. Aber selbst Rollen wie z.B. Hamlet spielt kaum ein Schauspieler in einer weiteren Produktion.

 

Wenn Sie an die Inszenierung eines Werkes gehen, wie sieht ihre Zusammenarbeit im Vorfeld mit dem Dirigenten aus? Legen Sie ein Konzept vor, oder entsteht dies gemeinsam? Ihre Einsichten in Otello sind natürlich tiefgreifend, Sie verfassten sogar ein Buch über „How to do Shakespeare“ (Wie „macht“ man Shakespeare?).

 

Das hängt sehr stark vom Werk ab. Bei „Alcina“ fasste ich meine Ansätze zusammen und legte sie dem Dirigenten, Marc Minkowski vor. So wollte ich beispielsweise Musiker auf der Bühne einsetzen, worüber Minkowski glücklicherweise einverstanden war. Bei Otello begann die Zusammenarbeit hier vor Ort in Wien, da hatte ich im Vorfeld mit Myung-Wun Chung keine Gespräche.

 

Es scheint, als ob Othello, das Theaterstück und Otello, die Oper zwar der gleichen Handlung folgen, sich aber dennoch unterscheiden – nicht nur in der Länge und in den Details und der Vorgeschichte. Die Unterschiede in der Charakterisierung der Figuren werden beispielsweise im „Credo“ von Iago deutlich.

 

Das stimmt – der Zugang zu Iago ist ein Hauptunterschied. Shakespeare erzählt absichtlich nichts über Iagos Gedanken und Beweggründe. Bei Verdi findet man eine christliche Ikonographie dieser und anderer Figuren: Verdammnis, Himmel und Hölle, und nahezu eine Seligsprechung von Desdemona – das hätte Shakespeare nicht machen können, dafür hätte man ihn verbrannt! (lacht)

Für mich war es also interessant zu analysieren, worin die inhaltlichen Unterschiede bestehen. Der komplette erste Akt von Shakespeare fehlt – Verdi steigt gleich bei der Szene mit der Heimkehr, mit dem Sturm ein. Das schafft einen dramatischen Druck auf den Anfang – und dieser Sturm dominiert sowohl musikalisch als auch handlungstechnisch die Oper. In dem Sinn, dass sich die „Welt“ durch diesen Sturm verändert und nie wieder die gleiche sein wird. Als hätten sich die tektonischen Platten verschoben!

Diese bedrohliche Stimmung kann Shakespeare natürlich nicht in der gleichen Weise aufbauen.

 

Der Vorteil von Musik!

 

Ganz genau.

 

Verdi hat seinen Otello nach einer rund 15-jährigen Kompositions“pause“ komponiert, und die Musiksprache, die er anbietet, ist eine für die Zeit sehr progressive.

 

Mich fasziniert daran, wie er dieses Drama musikalisch umsetzt. Die Kunst eines Schauspielers liegt darin, die einzelnen Verse und Prosastellen so in Form zu bringen, dass der Text klingt, als hätten die Darsteller ihn gerade erfunden. Und der Vortrag muss natürlich klingen, als würden wir noch z.B. Shakespeares Sprache sprechen.

In der Zeit, in der Verdi Otello und Falstaff komponierte, war er so eingestimmt darauf, wie man menschliche Sprache, Gedanken und Emotionen umsetzt – die Tonsprache ist nicht illustrativ, sie bebildert nicht die Gedanken und Gefühle. Seine Sprache setzt die Gedankenwelt seiner Figuren erstaunlich realistischer um.


Olga Bezsmertna (Desdemona) und Aleksandrs Antonenko (Otell) © Wiener Staatsoper / Michael Pöhn

Was können Sie uns über die Produktion erzählen? Die Fotos, die zu sehen sind, zeigen ein modernes Bühnenbild und Kostüme, die auf eine traditionelle Inszenierung und Sichtweise schließen lassen.

 

Das ist in Grundzügen korrekt. Meiner Meinung nach ist es die Aufgabe eines Regisseurs, ein Libretto oder eine Opernhandlung zum Leben zu erwecken, und nicht sich selbst in Szene zu setzen. Wenn mich Menschen nach dem Konzept fragen, gestehe ich immer, dass ich das nicht auf den Punkt bringen kann. Ich habe kein Konzept in dem Sinn.

Es langweilt mich zu Tode, wenn ich von Inszenierungen höre, in denen die Handlung in ein Konzentrationslager verlegt wurde. Das ist Schwachsinn! Da gehe ich stattdessen lieber essen, das ist interessanter. (lacht)

 

Es hat für mich den Eindruck, als ob sich der Zugang zu den drei Hauptfiguren Otello, Desdemona und Iago im Laufe der Zeit geändert hat. Desdemona ist nicht mehr das Dummchen, das auf ihr Taschentuch nicht aufpassen kann …

 

Desdemona ist eine junge Frau ihrer Zeit, es gibt keinerlei Hinweis, dass sie dumm ist! Das Kernthema des Stückes ist sexuelle Eifersucht, es geht nicht um rassistische Hintergründe. Die Figur des Otello muss sich in meiner Inszenierung daher nicht das Gesicht schwarz anmalen! Doch diese Form von Eifersucht bringt Unheil, es ist der zerstörerischste und gefährlichste Affekt der Menschheit. Das zeigt sich nicht nur in Otello, sondern auch in anderen Stücken! Diesem Gefühl ausgesetzt zu sein ist so vernichtend.
Eine gute Freundin von mir ist Eheberaterin, und sie berichtet, dass sich 90 bis 95 % der Scheidungen um das Handy drehen. Ein Partner ist unter der Dusche, verpasst einen Anruf – und wird sofort mit der Frage konfrontiert, zu wem die Telefonnummer gehört. Eine Telefonnummer – das ist eine Kleinigkeit … so klein wie ein Taschentuch! Und was Shakespeare mit dem Taschentuch ausdrücken will: Der Auslöser ist meistens keine große Geschichte, niemand wird in flagranti erwischt – sondern eine vermeintliche Nichtigkeit.

 

Doch der Ausweg, sich einfach mal scheiden zu lassen, steht Desdemona nicht offen.

 

Allein im ersten Akt bei Shakespeare ist ihre Handlung bemerkenswert: Um Otello zu heiraten – einen Fremden, noch dazu einen Soldaten! – widersetzt sie sich ihrem Vater, wird von der Familie ausgeschlossen, enterbt. Und sie folgt Otello in den Krieg.

 

Auch die Darstellung von Iago hat sich geändert, natürlich ist er der abgrundtief Böse, aber er stellt dies nicht mehr so offensichtlich zur Schau!

 

Weil es viel logischer ist, wenn sich Iago auf freundliche Weise das Vertrauen von Otello erschleicht – und viel drastischer, wenn klar wird, was unter der Oberfläche brodelt. Das wollte Verdi zeigen! Der Kontrast wird umso erschreckender, wenn sich Otello zunächst in Sicherheit glaubt.


Adrian Noble bei den Proben zu Otello © Wiener Staatsoper / Michael Pöhn

 

Theater und Oper spiegeln oft die Gesellschaft in beeindruckender Weise wider. Otello könnte fast heute spielen …?

 

Ich bin oft darüber erschüttert, wie manche Frauen heute noch in eine Ehefalle tappen, aus der sie sich nicht befreien können, obwohl theoretisch die Möglichkeit zur Scheidung besteht. Doch einer Frau vorzuwerfen, dass sie aus einer Ehe nicht ausgebrochen ist, ist ziemlich kurzsichtig und anmaßend, weil es meist komplexe Gründe für ihr Verhalten gibt. Also könnte auch in diesem Sinn Otello heute spielen.
Heute würde Desdemona vielleicht von ihrer Mutter den Rat bekommen, zu bleiben – und würde vielleicht den Vorwurf zu hören bekommen, was sie falsch gemacht hat, dass sich Otello so verhält. Die Geschichte spielt sich innerhalb von 36 Stunden ab, also hat sie nicht die Zeit, mal ihre Mutter oder ihre Freundin anzurufen …
Die zentralen Fragestellungen von Oper sind unsterblich. Die Kulturpolitik hat sich verändert. In den letzten Jahren hat sich viel zum Thema Flüchtlinge getan, wobei dieses Thema insgesamt relativ jung ist. Wir verlegen die Handlung daher in die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, was die Geschichte greifbarer macht. Venedig ist eine Kolonialmacht, in der Moslems leben. Und das erste, was Otello singt, ist „Ich habe alle Moslems ertränkt!“ Wenn man genau hinsieht, entdeckt man auf der Bühne viele Moslems. Die sind über Otellos Ausruf nicht gerade erfreut, denn es könnte ihr Sohn oder Bruder sein, der bei Otellos Angriff ertrunken ist.

 

Wie sehen Ihre Pläne für die Zukunft aus, wird es weitere Opernproduktionen von Ihnen geben?

 

Was Oper betrifft, steht nicht viel Neues auf dem Programm. An der MET in New York findet nächste Saison eine weitere Serie von Macbeth statt, mit Anna Netrebko und Placido Domingo.

Doch im Sommer kommt mein Film „Mrs Lowry and Son“ heraus, am 30. Juni wird dieser Film das Edinburgh Filmfestival beenden. Danach wird der Streifen ab Ende August in den Kinos ausgestrahlt. (Anm.: https://www.imdb.com/title/tt7590074/ Mit Vanessa Redgrave und Timothy Spall) .

 

Herr Noble, vielen Dank für das Gespräch!


Das Gespräch mit Adrian Noble führte Renate Publig im Juni 2019 im Sitzungsraum der Wiener Staatsoper

 

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