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AACHEN: „AU MONDE“ von Philippe Boesmans. Deutsche Erstaufführung

04.01.2016 | Oper

AACHEN: „Au Monde“, Deutsche Erstaufführung (3.1.2016)

 Der belgische Komponist Philippe Boesmans (Jg. 1936) ist Hauskomponist am  Théâtre Royal de la Monnaie in Brüssel. „Au monde“ ist seine 6. Oper; sie wurde am 30.3.2014 in Brüssel uraufgeführt. Die deutsche Erstaufführung (und zweite Produktion überhaupt) hat nun das Theater Aachen eindrucksvoll  herausgebracht – in einer Inszenierung von Ewa Teilmans auf der von Oliver Brendel gestalteten Bühne mit einem ausgezeichneten Ensemble und dem jungen Kapellmeister Justus Thorau am Pult des Sinfonieorchesters Aachen.  Handlung und Libretto stammen von dem französischen Dramatiker und Regisseur Joël Pommerat (Jg. 1963) und gehen zurück auf sein (im deutschsprachigen Raum kaum bekanntes) Schauspiel „Au monde“ von 2004, das in die ebenso hermetische wie zwielichtige Atmosphäre einer reichen Industriellenfamilie eintaucht.

 Dem von Intendant Michael Schmitz-Aufterbeck als Produktionsdramaturg persönlich konzipierten Aachener Programmheft sind drei besonders interessante Informationen zur Arbeitsweise  Pommerats enthalten. Zum einen versteht der französische Autor „Au monde“ als „Palimpsest“, d. h. als Überschreibung einer literarischen Vorlage, als die er ausdrücklich Anton Tschechows Schausspiel „Drei Schwestern“  nennt. Mit dieser „Überschreibung“ geht er den Schritt vom Regisseur, der die Aktualität eines Werkes in seiner Inszenierung herauszuarbeiten sucht, weiter zum Autor, der aus dieser Vorlage ein eigenes Stück entwickelt. (Diese Verfahrensweise erscheint mir ehrlicher, transparenter und sinnvoller als die Marotte etlicher Regisseure auf deutschen Bühnen, vom vorgeblich inszenierten Stück nicht mehr viel übrig zu lassen.) Zum andern entstand das Stück, indem Pommerat einige Schlüsselsätze oder -situationen entwarf und seine Schauspieler darüber improvisieren ließ. Daraus ergab sich keine stringente Handlung, sondern eine Folge schlaglichtartiger Szenen, in denen und zwischen denen immer etwas offenbleibt. Bestimmte Dinge werden nicht gezeigt oder nicht ausgesprochen. Dies bleibt aber – drittens – keine Spielerei, sondern der Autor hat  die Szenen so zugespitzt, dass die Figuren auf der Bühne immer bemüht sind, ihr Image und ihre Wirkung  zu kontrollieren, sie einzusetzen und dadurch Macht auszuüben, und er hat die Figur des Vaters als allmählich senil werdenden Patriarchen hinzugefügt. Die Ursprungskonstellation der „Drei Schwestern“ erscheint damit in aktueller und unheimlicher Weise zugespitzt.

 Auch in der Opernfassung bleiben diese drei Aspekte von Pommerats Arbeitsweise deutlich spürbar.

Philippe Boesmans sieht allerdings auch starke Berührungspunkte zu Maurice Maeterlincks Drama „Pelléas et Mélisande“ und der darauf basierenden Oper Claude Debussys. Das Motiv der verbotenen Liebe erscheint nämlich in der Zuneigung der verheirateten und schwangeren ältesten Tochter (Sanja Radišić) zum jüngeren Bruder Ori (Hrólfúr Saemundsson), ebenso das des schwächer werdenden Vaters. Das Aachener Regieteam nimmt als weitere Vorlage noch Shakespeares Drama „Richard III.“ an, weil sich Züge von dessen Titelfigur in der Person des Ehemanns der ältesten Tochter (Johan Weigel) wiederfinden: Dem kommt es offensichtlich in erster Linie darauf,  seinen im Waffengeschäft erfolgreichen Schwiegervater (Randall Jakobsh) zu beerben. Dieser wiederum möchte seinen nach fünf Jahren Militärdienst im Ausland zurückkehrenden Sohn Ori als Nachfolger sehen. Ori ist nicht nur unentschlossen, sondern auch verschlossen. Er leidet unter einer fortschreitenden, vielleicht auch symbolisch zu verstehenden Erblindung. Er hat ein Buch geschrieben, das erst ignoriert, dann teilweise gelesen, aber nie thematisiert wird.  Schwiegersohn und ältester Sohn (Pawel Lawreszuk) könnten sich mit ihm als Strohmann an der Firmenspitze wohl anfreunden, doch bis zur Entscheidung vergehen quälende Wochen, in denen sich der Geisteszustand des Vaters zunehmend verschlechtert. Am Ende erkennt er die Töchter nicht mehr, und man muss befürchten, dass er sich an der Adoptivtochter (Suzanne Jerosme), der jüngsten der drei Schwestern, vergreift.

 Während Pommerat Tschechows Sujet ein gutes Jahrhundert in die Gegenwart transportiert hat, blickt Philippe Boesmans in seiner Partitur oft ein Jahrhundert und mehr zurück. Es gibt zwar durchaus moderne, aggressive Klangballungen, aber stärker ist die Orientierung an Debussys leiser, resignierter „Pelléas“-Partitur einerseits, an den auftrumpfenden, zuspitzenden Gesten bei Richard Wagner und Richard Strauss andererseits. So sensibel wie Thorau das Orchester führt, sind aber diese Elemente so subtil und so suggestiv ineinander verwoben, dass sie den Hörer zunehmend in der Sog der sich zuspitzenden Bühnen-und Familien-Situation hineinziehen. Offensichtlich verlogene Aussagen der Protagonisten sind häufig an ironischen Streicherglissandi zu erkennen. Zudem werden zwei Schlüsselfiguren des Dramas musikalisch besonders hervorgehoben. Die eine ist die mittlere Tochter. Sie ist die agilste der drei Schwestern: Eine vergleichsweise erfolgreiche Fernsehmoderatorin, attraktiv, artikulationsfähig und artikulationsfreudig, sensibel mit leichter Tendenz zur Hysterie,  nicht ohne Schuldbewusstsein angesichts der Waffengeschäfte des Vaters und nicht ohne düstere Vermutungen anlässlich von Oris nächtlichen  Ausgängen. Sie wird von der Familie bewundert, die immer wieder ihre offensichtlich trivialen Fernsehsendungen einschaltet, während sie selbst sich vor ihrer Fernseh-Erscheinung zu ekeln beginnt. Manchmal schwärmt sie für den Garten, den das Bühnenbild in einem Fensterausschnitt im Herbstlaub zeigt; dann gibt ihr Boesmans einen orchestralen Hintergrund, der von Wagners Idyllen im „Ring“ inspiriert ist.  In ihren nachdenklichen, lyrischen Momenten entwickelt sich ein barock anmutender, ganz ungekünstelter, aber dennoch expressiver Arioso-Tonfall. Gesanglich, optisch und darstellerisch hinterlässt Camille Schnoor in dieser Rolle einen nachhaltigen Eindruck.

 Einige der Szenen interpretiert die Regie als Traum- oder Albtraumszenen dieser zweiten Tochter. Da öffnet sich dann die Aufzugtür in der Hinterwand des großen Saales, und aus weißen Rauchschwaden erscheinen reale oder imaginäre Gestalten, seelische Wahrheiten und Projektionen. Da erscheint Ori, erst als zerbrechlicher kleiner Knabe im Korsett, dann als Jugendlicher mit Uniform und Gewehr. Mehrmals sieht man „die Fremde“, die der Ehemann der ältesten Tochter zur Entlastung seiner schwangeren Frau in den Haushalt eingeführt hat. Diese junge Frau spricht die Landessprache nicht, man weiß auch nicht, was sie eigentlich arbeitet, aber sie nimmt offensichtlich viel wahr. Als Außenstehende im familiären Mikrokosmos zieht sie Misstrauen und Sympathien auf sich. Die junge Tänzerin Marika Meoli (in Aachen schon als Marguerita in der „Westside Story“ zu erleben) gibt dieser Figur eine enorme körperliche Präsenz und versteht es auch, ganze Sätze und Satzfolgen in einer von Pommerat erfundenen Fantasiesprache ausdrucksvoll zu deklamieren. Ihrem Arbeitgeber, dem Schwiegersohn des Patriarchen, schleudert sie eine lange, eindrucksvolle Anklage ins Gesicht, während auf der Bühne deformierte Opfergestalten von innerhalb und außerhalb der Familie vorbeidefilieren, darunter vielleicht auch die nicht mehr vorhandene Mutter.

 In den Traumszenen der mittleren Tochter singt „die Fremde“ (mit einer aus dem Off kommenden Männerstimme) Bruchstücke des Frank-Sinatra-Titels „I did it my way“, der auch immer wieder unauffällig in die Partitur verwoben ist. Das prominente Zitat ist vieldeutig: Es verweist auf den Abschied des Familien-Patriarchen, auf die Welt des Showbusiness, aber auch auf die französische Chanson-Version „Comme d’habitude“, die ein gefühl- und inhaltslos gewordenes Zusammenleben beschreibt. „Ich erkenne keine Zukunft mehr. Auch die Vergangenheit scheint Lüge zu sein. Ich kann nicht mehr Gut von Böse unterscheiden. Was sollen wir denn tun?“ Mit diesen Worten bricht die mittlere Tochter am Ende zusammen. Als Familienangehörige und als  Fernsehmoderatorin ist sie Mittäterin und Opfer zugleich – und das, um noch einmal den Dichter Pommerat zu zitieren, in einer Welt voller maskierter Kommunikation und moralischer Konfusion.  Es ist „die Fremde“, die sie freundlich vom Boden aufhebt, tatkräftig über die Schulter legt – und wohl in ihr Zimmer trägt. Manchmal sind die Fremden die Nächsten.

Andreas Hauff

 

 

 

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