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60 CD-Box CARLO MARIA GIULINI – Remastered, Complete Studio Recordings Columbia, HMV, Pathe & Electrola; Warner. Für die einsame Insel

14.06.2025 | cd

60 CD-Box CARLO MARIA GIULINI – Remastered, Complete Studio Recordings Columbia, HMV, Pathe & Electrola; Warner

Für die einsame Insel

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Zwei Initiationserlebnisse im Zugang zur klassischen Musik prägten mich Mitte der Siebziger Jahre nachhaltig. Beethovens Fidelio mit Gwyneth Jones und mein erstes Orchesterkonzert überhaupt. Da musizierte Carlo Maria Giulini im Goldenen Saal des Wiener Musikvereins Schuberts „Unvollendete“. Ich erinnere mich genau an die Eleganz der Bewegungen, die langen Arme, die Ausdruck ganz nebstbei herbeischaufelten sowie einer sich daraus entwickelnden Klangästhetik, die in ihrer farblichen Kontrastierung, ihrer mediterranen Leichtigkeit (Toskana grüßt die Wiener Nußdorferstrasse), unangestrengten Formwahrung und in ihrem elastisch beschwingten tänzerischen Elan den Grundstein für künftige musikalische Glücksmomente legten. Wenn Goethe Faust zu Wagner sagen lässt „Wenn ihr’s nicht fühlt, ihr werdet’s nicht erjagen, wenn es nicht aus der Seele dringt und mit urkräftigem Behagen die Herzen aller Hörer zwingt.“, ist für mich mit der außergewöhnlichen Person von C. M. Giulini wesensgleich.

Der in Südtirol aufgewachsene Bratschist, Dirigent und Komponist kam mit seinem Debüt in Bergamo 1948 mit Verdis „La Traviata“ (ab 1951 ebenda mit Tebaldi und Callas in der Titelrolle) zur Oper, einem Stück, das er an der Mailänder Scala wenige Jahre später in einer Inszenierung von Visconti mit Maria Callas zu einsamer Spitze führte. Die Live-Mitschnitte mit Callas, Giuseppe di Stefano (respektive Gianni Raimondi) und Ettore Bastianini gehören bis heute zum Besten in Sachen italienischer Oper. Als Chefdirigent sowohl der Mailänder Scala als auch der Oper in Rom setzte Giulini wichtige Impulse. In einer künstlerischen Gesamtschau bleiben diese Jahre jedoch peripher. Im Grunde war Giulini ein Symphoniker allererster Güte mit mächtig Temperament und Leidenschaft in mittleren Jahren.

Folgerichtig konzentrierte sich Giulini ab Mitte der Sechziger Jahre zunehmend auf symphonisches Repertoire, wobei die deutsche Klassik und Romantik einen zentralen Stellenwert einnahm. Seine Spitzenpositionen bzw. zahlreichen Engagements bei Klangkörpern wie dem Chicago Symphony Orchestra, dem Philharmonia Orchestra, den Wiener Symphonikern, dem LSO, den Wiener Philharmonikern und später dem Los Angeles Symphony Orchestra sind Legende und schlugen sich zudem in zahlreichen Schallplatteneinspielungen nieder.

A propos: Nun erschienen die vollständigen Studioaufnahmen für Columbia, HMV, Pathé und Electrola von Carlo Maria Giulini erstmals in einer umfassenden 60-CD-Edition. Klanglich sensationell remastered in High Definition von den Originalbändern, kann Giulini erst mit Hilfe dieser Box wirklich umfassend gewürdigt werden. Generalisierende Vorurteile wie Behäbigkeit, überwiegend breite Tempi, bedachtsamer Akademismus sind da rasch und gründlich vom Tisch.

Als Beispiel möge die 1952 in Aix-en-Provence entstandene Aufnahme von Glucks Oper „Iphigénie en Tauride“ dienen, die trotz eines mittelmäßigen Orchesters in ihrer antikischen Wucht, dramatischen Binnenspannung, Artikulationsschärfe und somit jegliche Romantisierung meidender Modernität so manchen Originalklangapostel von heute alt aussehen lässt. Ähnlich innovativ und auf jegliche Interpretationstradition pfeifend hört sich die (endlich in klarem, unverzerrtem Sound vorliegende) Aufnahme vom Rossinis „L’Italiana in Algeri“ mit dem Orchester der Mailänder Scala und Simionato, Sciutti, Petri, Valletti in den Hauptrollen an. Rhythmisch hochpräzise, geradlinig – und wenn es sein darf, schroff-kantig – war Giulini mit dieser Lesart der Vorläufer einer modernen Rossini-Rezeption, die in Claudio Abbado ihren prominentesten Fürsprecher fand. Dementsprechend spannend, schlank-sehnig und federnd hören sich zudem die Einspielungen der Rossini-Ouvertüren mit dem Philharmonia Orchestra aus den Jahren 1958, 1959, 1962 und 1964 an. Spritzigkeit, Charakterisierungslust und sorgfältigst gezeichnete Vokalparts zeichnet Pergolesis „La serva padrona“ mit Nicola Rossi-Lemeni und Rosanna Carteri vom Mai 1955 aus.    

Die Aufnahmen der Mozart-Opern „Le nozze di Figaro“ und „Don Giovanni“ (aus dem Jahr 1959 mit einem Eberhard Wächter am Zenit (der seinem virilen Verführer eine unendliche erotische Gier und Besessenheit verleiht wie kein Zweiter), des „Requiems“ (allesamt mit dem Philharmonia Orchestra & Chorus) und traumhaften, italienisch und gezielt angelsächsisch durchmischten Sängerbesetzungen gehören zur Referenzbasis einer jeden Plattensammlung. Die Alben verlieren auch bei oftmaligem Hören nichts von ihrer Faszination und ihrer dramaturgischen Wahrhaftigkeit.

Was dabei auffällt, ist, wie intensiv Giulini offenbar mit seinen Sängern und Sängerinnen gearbeitet hat und wie gut er mit ihnen konnte, um das Optimum aus diesen heute legendären Stimmen herauszuholen. Das ist nicht zuletzt an Verdis „Don Carlo“ vom August 1970 mit Caballé, Verrett, Domingo, Raimondi, Milnes und Estes zu hören, einem unverwüstlichen Klassiker, der ebenfalls Operngeschichte geschrieben hat.

Natürlich ist, was die Zusammenarbeit mit der EMI (heute Warner) anlangt, der Name Walter Legge fällig, der das nachschöpferische Genie des Musikers erkannte und in einer langfristigen Kooperation verewigte. Gesichert ist, mit welcher Sorgfalt Giulini die Partituren studierte, sein scharfes Ohr auf den Wesenskern der Opern und Symphonien konzentrierte. Ob Giulini wirklich nur ans Pult trat, wenn er – wie selbst konstatiert – mindestens 18 Monate lang ein Werk studiert hat, lässt sich nicht verifizieren. Aber die ernsthafte Intensität des Musizierens und die superbe, stilistisch stets makellose Wirkung spricht für sich.

Dass eigenwillige Regiekonzepte und die rigiden Probenbedingungen an den großen Opernhäusern einem so gründlichen Musiker wie Giulini nicht gerade entgegenkamen, verwundert nicht. So pausierte der Dirigent viele Jahre im Operngeschäft, bevor er erst 1982 wieder in Los Angeles Verdis „Falstaff“ dirigierte.

Seien wir dankbar. Denn was C. M. Giulini im deutschen und französischen Fach, der gemäßigten Moderne und der großen Chor-Orchesterliteratur an Gültigem und Referentiellem hinterließ, wird hoffentlich noch Generationen an Musikliebhabern erfreuen und Maßstab sein.

Besonders begeistern die Aufnahmen der Symphonien Nr. 7-9 (auf dem vorderen Cover von CD 27 steht fälschlicherweise Symphony Nr. 4) von Antonin Dvorak, Gustav Mahlers „Erste“ in D-Dur, der frühe Brahms Zyklus mit dem Philharmonia Orchestra sowie die grandiosen Tchaikovsky Aufnahmen der Symphonien Nr. 2, 5 und 6, der „Romeo und Julia“ Fantasieouvertüre bis zu „Francesca da Rimini“. Mir hinterlässt Schuberts „Achte“, D. 759 in der Box einen noch stärkeren Eindruck als die Erinnerung an mein allererstes symphonisches Konzert. Was die Phrasierung, das Drehmoment und den Kolorit der Interpretation anlangt, fällt mir als Pendant nur noch die Aufnahme mit Carlos Kleiber ein.

Aber auch die Solisten Hans Richter-Haaser (Beethovens „Fünftes Klavierkonzert“ in c-Moll), Claudio Arrau (Brahms Klavierkonzerte), Itzhak Perlman (Brahms Violinkonzert) und Mstislav Rostropovich (Dvorak Cellokonzert und Saint-Saens Erstes Cellokonzert) hinterließen Bleibendes.

Wer in Sachen Cherubini Messen und Requien nur die arg geglätteten Versionen unter Riccardo Muti kennt, wird sich beim Hören der Aufnahme aus Rom 1953 mit dem Orchestra Stabile e Coro dell‘Accademia Nazionale di Santa Cecilia wundern, was die Partitur Luigi Cherubinis Requiem in c-Moll an architekturaler Kühnheit, archaischer Kraft und dunkler Erdigkeit hergibt. Sogar Beethoven wünschte sich, dass dieses Requiem bei seiner eigenen Beisetzung erklingt. Bei einer solchen kantig kompromisslos ehernen Lesart wie derjenigen von Giulini, seiner ersten Aufnahme für Legge überhaupt, wird dieser Wunsch verständlich.

Als ausgesprochene „Vom-Sessel-Heber“ können die maßstabsetzenden Einspielungen von Stravinskys „L’Oiseau de feu“, Bizets „Jeux d’enfants“ und Ravels „Ma Mère l’Oye“ aus dem Jahr 1956 in nunmehr unglaublicher klanglicher Brillanz für die Zeit der Entstehung gelten.

Dem Befund von Christoph Vratz ist klar beizupflichten, dass Giulini als ehemaliger Bratschist ein großes Gespür für die Mittelstimmen hatte, was „seinem“ Orchestersound, ohne je kompakt-steif zu sein, eine kernige, zu jedem lyrischen Flausch stets wandelbare Substanz verleiht und dem Hörer ein körperlich erfahrbares, gesamtheitliches Orchestererlebnis erlaubt. Übertrieben an ausgetüftelten Detailschrauben herumgedoktert hat Giulini ohnedies nicht. Das Faszinosum Giulini schließt auch die “vielschichtigen Perspektivenwechsel“ (Zitat Vratz) ein, zu denen Giulini befähigt war. Man achte nur auf die unterschiedlichen Charakteristika der sechs Sätze in Stravinskys Konzertsuite zum „Feuervogel“ oder den Übergang etwa vom Duo ‚petit mari, petite femme‘ zum funkelnden Galop ‚Le bal‘ in Bizets „Jeux d’enfants“.

Das Tolle an der Box ist nicht nur der Überraschungsfaktor, mit welchem Animo und Nebeneinander von kompromissloser Härte und zartester Poesie Giulini vor allem in den Fünfziger und Sechziger Jahren ans Werk ging, sondern er tritt auch den Beweis an, dass das gleichzeitige Denken von dramaturgischer Entfesselung und himmlischem Klangzauber die befriedigendsten Ergebnisse zeitigt.

Die Edition enthält überdies bisher Unveröffentlichtes, so die Freischütz-Ouvertüre (1969), die Stereo-Versionen der Frühling- und Sommer-Konzerte aus Die vier Jahreszeiten, eine Probe vom Winter (1955) sowie Auszüge aus Tchaikovskys „Fünfter“ (1962). Ein 74-Seiten starkes Booklet mit vielen Fotos und drei aufschlussreichen Aufsätzen („Carlo Maria Giulini, Gentleman of the Podium“ von Tully Potter, „Sous l’empire de Dieu“ von Rémy Louis und „Musizieren als Sinnfrage“ von Christoph Vratz) rundet die vorbildliche Box ab.

Inhalt der Box

  • Ludwig van Beethoven: Symphonien Nr. 6-9; Egmont-Ouvertüre Op. 84; Klavierkonzert Nr. 3; Violinkonzert Op. 61; Missa solemnis D-Dur op. 123; Messe C-Dur Op. 86
  • Wolfgang Amadeus Mozart: Don Giovanni; Le Nozze di Figaro, Requiem d-Moll KV 626; Klavierkonzerte Nr. 9 & 21
  • Johannes Brahms: Symphonien Nr. 1-4 (Nr. 4 in zwei Einspielungen); Klavierkonzerte Nr. 1 & 2 (Nr. 1 in zwei Einspielungen); Violinkonzert Op. 77; Haydn-Variationen Op. 56a; Tragische Ouvertüre Op. 81
  • Anton Bruckner: Symphonien Nr. 2 & 9 (Nowak-Editionen)
  • Antonin Dvorak: Symphonien Nr. 7- 9; Carnaval-Ouvertüre op. 92; Scherzo capriccioso op. 66; Cellokonzert Op. 104
  • Robert Schumann: Symphonie Nr. 3 Es-Dur Op. 97 „Rheinische“ (orchestriert von Gustav Mahler); Cellokonzert a-moll Op. 129; Manfred-Ouvertüre Op. 115
  • Franz Schubert: Symphonie Nr. 8 h-moll D. 759 „Unvollendete“
  • Peter Tchaikovsky: Symphonien Nr. 2, 6; Francesca da Rimini Op. 32; Romeo & Julia-Ouvertüre; Proben zur Symphonie Nr. 5
  • Giuseppe Verdi: Don Carlos; Messa da Requiem; Quattro Pezzi sacri; I Vespri siciliani-Ouvertüre; La Forza del destino-Ouvertüre; La Traviata-Vorspiele (1. & 3. Akt)
  • Hector Berlioz: Romeo et Juliette Op. 17
  • Georges Bizet: Jeux d’enfants
  • Luigi Boccherini: Cellokonzert Nr. 9 B-Dur G. 482; Ouvertüre D-Dur op. 43; Symphonie c-Moll op. 41
  • Benjamin Britten: Four Sea Interludes aus Peter Grimes op. 33a; The Young Person’s Guide to the Orchestra Op. 34
  • Luigi Cherubini: Requiem c-Moll
  • Claude Debussy: La Mer; Nocturnes Nr. 1-3
  • Manuel de Falla: El Amor brujo; Der Dreispitz
  • Cesar Franck: Psyche et Eros; Symphonie d-Moll
  • Christoph Willibald Gluck: Iphigenie en Tauride
  • Joseph Haydn: Symphonie Nr. 94 „Mit dem Paukenschlag“; Cellokonzert Nr. 2 D-Dur
  • Gustav Mahler: Symphonie Nr. 1 „Titan“
  • Modest Mussorgsky: Eine Nacht auf dem kahlen Berge
  • Giovanni Battista Pergolesi: La Serva Padrona
  • Maurice Ravel: Daphnis et Chloe-Suite Nr. 2; Ma Mere l’Oye; Alborada del gracioso; Pavane pour une infante defunte; Rapsodie espagnole
  • Gioacchino Rossini: L’Italiana in Algeri; Guillaume Tell-Ouvertüre; Il Barbiere di Siviglia-Ouvertüre; Il Signor Bruschino-Ouvertüre; L’Italiana in Algeri-Ouvertüre; La Cenerentola-Ouvertüre; La Gazza ladra-Ouvertüre; La Scala di seta-Ouvertüre; Semiramide-Ouvertüre; Tancredi-Ouvertüre
  • Camille Saint-Saens: Cellokonzert Nr. 1 a-Moll Op. 33 (in zwei Einspielungen)
  • Igor Strawinsky: Der Feuervogel-Konzertsuite (1912); Petruschka-Suite; Der Feuervogel-Konzertsuite (1919)
  • Antonio Vivaldi: Violinkonzerte op. 8 Nr. 1-4 „Die vier Jahreszeiten“ (Mono-Aufnahme & Stereo-Testaufnahme / 1955)
  • Carl Maria von Weber: Der Freischütz-Ouvertüre op. 77

Dr. Ingobert Waltenberger

 

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