6 CD-Box: Dmitri Shostakovich: Streichquartette Nr.1-15; QUATUOR DANEL; Accentus
Ausblick auf den 50. Todestag des Komponisten 2025: Aufgekratzte, seelisch-musikalische Botschaften als Live-Mitschnitte aus dem Gewandhaus Leipzig 2022
„Die Auseinandersetzung mit dieser Musik ist wie ein Gral – die Suche und das Experimentieren nehmen kein Ende. Außerdem unterscheidet sich unsere Interpretation heute sehr von der vor siebzehn Jahren, was sicher auch daran liegt, dass Vlad und Yovan zwischenzeitlich dazugestoßen sind.“ Marc Danel
Es ist die zweite Gesamtaufnahme des Quatuor Danel der insgesamt 15 Streichquartette, die Dmitri Shostakovich zwischen 1938 (Nr. 1, Op. 49) und 1974 (Nr. 15, Op. 144) komponierte.
Das Quatuor Danel präferiert, um die inneren Zusammenhänge und die musikalischen Entwicklungen des russischen Tonsetzers zu verdeutlichen als auch das autobiografisch verarbeitete Gewebe zu schärfen, zyklische Aufführungen. Die erste zyklische Befassung mit dem Streichquartettschaffen von Shostakovich im Konzertsaal datiert aus dem Jahr 1992. Seither hat sich nicht nur die Zusammensetzung des Quartetts (seit 2005 spielt Vlad Bogdanas die Viola und seit 2014 Yovan Markovitch das Cello) geändert.
Marc Danel (Primgeiger) und Marc Millet (zweite Violine) schöpften in ihrem musikalischen Werdegang aus persönlichen Begegnungen und vielen musikalischen Stunden mit Mitgliedern des Amadeus Quartetts und Borodin Quartetts. Während drei aufeinander folgenden Jahren (Winterresidenzen der ‚Borodins‘ beim Aldeburgh Festival) konnten sie gemeinsam mit dem Borodin Quartett elf der Shostakovich Streichquartette im Detail erarbeiten. Besonders beim Namen Valentin Berlinsky ist die Begeisterung fast schon körperlich zu spüren und auch der Bratschist Dmitri Shebalin konnte Authentisches vermitteln, als sein Vater, der Komponist Vissarion Shebalin, eng mit Shostakovich befreundet war.
Markovitch schildert seine musikalische Shostakovich-Initiation so: „Bei den Danels habe ich eine völlig neue Welt entdeckt. Eine neue Spannung beim Musizieren, ein differenziertes Verständnis für die Ausdrucksvielfalt dieser Musik, die ich bis dahin vor allem als sehr ernst empfunden hatte. Ich stieg schnell ein in diesem faszinierenden Kosmos und wurde von den anderen Mitgliedern ‚unterrichtet‘ darin, wie man den Klang verzerrt, wo es die Musik verlangt oder auch in einem neuen Verständnis von Vibrato.“
Mit Letzterem wird bei den zwischen Februar und Mai 2022 im Mendelssohn-Saal des Gewandhauses zu Leipzig live aufgenommenen Quartetten sparsam umgegangen. Überhaupt haben wir es mit keiner „bequemen“ Interpretation zu tun. Statt um Romantik und Schönklang geht es bei Shostakovich vielmehr um „Charakter und Gesten, die mitunter eine gewisse Distanz Verlangen.“ (Bogdanas) Diesen vom Borodin Quartett übernommenen Grundsatz hat sich das Quatuor Danel individuell zu Eigen gemacht, sodass ‚ihr Shostakovich‘ ganz unverwechselbar klingt. Das kantig Schroffe und eine säurebeißend scharfe Artikulation stehen ganz im Dienste einer kompromisslosen Klangrede, die auf dem anderen Ende der Skala auch hauchzarte und fahl-leise Töne bereit hält. Die kontrastreiche Hörerfahrung bloß mit kalt-warm zu beschreiben, griffe jedoch zu kurz. Nehmen wir etwa den zweiten Satz des zwölften Streichquartetts, der eine ganz Welt an Ironie und Witz, an frechen Spielereien mit Zwöftonreihen offenbart. Der oft beschworene Sarkasmus in der Musik von Shostakovich ist nur eine von unendlich vielen Ausdrucksnuancen, die ein ganzes, unser ganzes Leben an widerstreitenden Erfahrungen und Gefühlen spiegeln. Danel: „Wie alle großen Künstler hat er in seinen Werken die ganze Bandbreite an Emotionen abgedeckt: von der hellsten bis zur dunkelsten, von der leichtgewichtigsten bis zur nachdenklichsten Stimmung.“
Das Quatuor Danel spürt diesem über die Macht von Worten weit hinausreichenden klingenden Universum an menschlichem Freud und Leid im Erfahrungshorizont des 20. Jahrhunderts mit einem unerhörten Nuancenreichtum an Bogentechniken, markigen Akzenten sowie feinst ziselierten bis wetternd gespachtelten Tonmalereien nach. Die überreiche Palette an Gestrichenem, Gezupftem und auf Holz Geklopftem lässt uns erschauern und lächeln, vielleicht auch in Gespenstisches gleiten und Unabwendbares erahnen.
Das wiederholte Hören dieses Zyklus in der aktuellen Interpretation durch das Quatuor Danel lässt vielleicht den Gedanken „Wie schaurig schön ist doch trotz allem das Leben“ Gestalt gewinnen. Zumindest mir ist es so ergangen. Und belegt wieder einmal, was eine mutig gedachte, intensiv durchlebte und künstlerisch völlig kompromisslose Interpretation bewirken kann.
Die Widmung im Album durch Mikhail Kopelman, Primarius des Borodin-Quartetts von 1976 bis 1996, liest sich wie ein kammermusikalischer Ritterschlag: „Dem Quatuor Danel gelingt es bis heute, die Essenz dieser Musik zu erfassen, und sie tragen damit die Tradition des alten Borodin-Quartetts in die Gegenwart.“
Auch klanglich sind die Alben top.
Weiterer Tipp: Das Quatuor Danel hat alle 17 Quartette von Mieczysław Weinberg für das Label cpo eingespielt.
Dr. Ingobert Waltenberger