4 CD-Box: EDWARD ELGAR: Symphonien Nr. 1-3, Enigma Variationen, Cellokonzert, Märsche – LONDON SYMPHONY ORCHESTRA live
„Elgar hat so viel von Falstaff. Er war ein beleibter raubeiniger Mann, der es liebte, mit seinem Hund am Fluss spazieren zu gehen und einfach so Melodien aus der Luft zu greifen.“ Sir Colin Davis
Elgar, der repräsentative Komponist des großsprecherischen „Edwardianischen Zeitalters“ und doch viel mehr als das. Elgar, der englische Spätromantiker schlechthin, der mit seinen opulenten Orchesterwerken weniger dem feingliedrigen „style guirlande“ der damaligen Juweliere huldigte, als vielmehr bürgerlichem Stolz und moosgranitenem Patriotismus mit Militärmärschen, trötenden Bläserfanfaren und altehrwürdigem Pomp akustischen Zucker gab? Aber da ist auch der Erfinder sehnsuchtstrunkener Melodien, der Schöpfer der 1905 geschriebenen „Introduction and Allegro for Strings“, die den virtuosen Geiger erahnen lassen und in all ihrer Kunstfertigkeit um die Anverwandlung von Elementen eines barocken Concerto grosso, der Sonatenform und halsbrecherischen Polyphonie in einer von Elgar selbst erfundenen walisischen Melodie kulminiert. Oder das elegisch bis pfiffige „Cellokonzert“ des depressiven 61-Jährigen, einer Abschiedsmusik voller rasender Erinnerungen, weltmüder Erhabenheit und Größe, dass dem Hörer der Atem stockt. Auch in den Symphonien begegnet uns Elgars Musik, die er ‚elastisch und mystisch‘ aufgeführt wissen wollte, als brillant bis tief melancholisch. Gerade seine „Zweite“ ist von dieser geheimnisvollen Ambivalenz, der Widersprüchlichkeit zwischen Hoffnung und Zagen, Lebensfeuer und Zweifeln getragen. Die Dritte, von der Elgar nur Skizzen hinterlassen hat, erklingt hier in einer von Anthony Payne sorgfältig ausgearbeiteten Fassung.
Das 1904 gegründete LSO und Elgar verbindet so einiges: Edward Elgar dirigierte das Orchester schon in der ersten Konzertsaison. Nachdem Hans Richter 1911 seinen Abschied von der Chefposition nahm, war es Elgar, der vorübergehend als Chefdirigent amtierte. Nach der Einführung von elektrischer Schallplattentechnik 1925 (EMI) war es wieder Edgar selbst, der im Zielraum 1926 bis 1932 mit dem LSO viele seiner Orchesterwerke einspielte. Vor allem das „Violinkonzert“ mit dem 16-jährigen Yehudi Menuhin gilt als Meilenstein in der Interpretationsgeschichte. Menuhin bescheinigte Elgar eine „große Gefühlstiefe, ohne es sich anmerken zu lassen“. Und beschrieb seinen Dirigierstil so: „Er hat nie etwas Überflüssiges getan, und das Orchester fühlte alles mit ihm. Er musste nicht zu theatralischen Gesten Zuflucht nehmen – er stand einfach nur da und bewegte ab und zu die Hände.“
Das Zentrum der vorliegenden CD-Box bilden Live-Mitschnitte der drei Symphonien vom Herbst/Winter 2001 aus der Barbican Hall mit Sir Colin Davis am Pult. Davis ist auch der musikalische Leiter der Aufnahme der „Introduction and Allegro for Strings“ Op. 47, ebenfalls live aus der Barbican Hall (23.9. und 9.12.2005). Für die Märsche 1 bis 5 „Pomp and Circumstance Military Marches“ Op. 39, den „Coronation March“ Op. 65 und den „Imperial March“ Op. 32 zeichnet Barry Tuckwell künstlerisch verantwortlich. Die Märsche vom April 1988 einmal außen vor, stammt die älteste Aufnahme der Box vom September 1988 aus der Walthamstow Town Hall (Cellokonzert in e-Moll, Op. 85 dirigiert von Rafael Frühbeck de Burgos; Felix Schmidt Cello), die jüngste, die nicht Elgar, sondern Ralph Vaughan Williams „Fantasia on a Theme by Thomas Tallis“ gewidmet ist, vom März 2020, exzelliert mit Sir Antonio Pappano am Pult. Alle Aufnahmen wurden re-mastered, erfreuen mit räumlicher Weite und Tiefe, süffigem Likörklang.
Elgar hat seine Partituren mit präzisen Angaben in Bezug auf Tempi, Phrasierung und Dynamik gespickt, aber im Zweifelsfall oder im Sturme des musikalischen Gefechts als Dirigent sich nicht einmal selbst genau an seine eigenen Angaben gehalten. Colin Davis hat sich in seiner Spätphase als Dirigent ebenso Freiheiten zugestanden, die er sich als junger Musikus nicht genommen hätte. „Es ist keine Tugend, alles um seiner selbst willen voranzutreiben, wozu die Jugend immer neigt.“ Seine Interpretationen aus dem Jahr 2001 scheinen jene frische Luft zwischen den Noten zu atmen, die Libertät in Phrasierung und Ton zu genießen, um das „Nichtwörtliche“ fließen zu lassen und die Klänge mit jenem Wissen um musikalische Botschaften zu elektrisieren, die Elgar selbst für seine erste Symphonie so formulierte: „Sie hat kein Programm außer eingehender Lebenserfahrung mit großer Nächstenliebe und gewaltiger Hoffnung auf die Zukunft.“
Dr. Ingobert Waltenberger