35 CDs: PIETER WISPELWEY – The Complete Channel Recordings; Channel Classics
Hommage an einen der bedeutendsten Cellisten der Schallplattengeschichte mit Cellomusik aus drei Jahrhunderten
Haydns Cellokonzerte mit Pieter Wispelwey und Florilegium waren eines der größten persönlichen Schlüsselerlebnisse im Bereich der Instrumentalmusik. Sein Cellospiel ist schlank, gesanglich, wandelbar, dabei fest grundiert, fokussiert, mit genau reflektiertem Vibrato und einem Temperament (Bewusstsein für rhythmische Kante und Betonungen dort, wo sie hingehören). Vom ersten Ton an war ich mitgerissen, ja eröffneten sich mir Tür und Tor für neue Hörerfahrungen. Dazu kommen eine Leichtigkeit und ein strömender, wirbelnder Fluss an Extrovertiertheit im Spiel: elektrisierend.
Dabei ist Pieter Wispelwey aufgrund seiner persönlichen Geschichte – er studierte zuerst bei Dicky Boeke und dem Originalklangpionier Anner Bylsma, hierauf bei Paul Katz in den USA und William Pleeth (UK) – ein großartiges Beispiel eines sich stets fort entwickelnden Musikers. Wispelwey zu verstehen, bedarf des freien Blicks auf einen neugierigen Künstler, der seinen Weg als persönliche Reise begreift und nicht davor zurückscheut, immer wieder von einmal eingeschlagenen Pfaden abzuweichen. Musik als riesige Experimentierkammer an Interpretationsmöglichkeiten zu erkunden. So kommt es, dass diese Box u.a. jeweils zwei verschiedene Aufnahmen von Bachs Cellosuiten, von Beethovens Cellosonaten bzw. Variationen für Violoncello und Pianoforte enthält.
Die Bandbreite seines Repertoires ist riesig und reicht von Bach, Vivaldi und Telemann über Klassiker (Haydn, Beethoven), Früh- (Schumann, Schubert) Hoch (Brahms, Tchaikovsky, Saint-Saens) und Spätromantiker (Reger, Franck, Fauré) bis zur klassischen Moderne (Britten, Prokofiev, Kodály) und Zeitgenössischem (Gubaidulina, Sculthorpe, Crumb). Mit bevorzugten Pianisten wie Paul Komen, Paolo Giacometti, Dejan Lazić, Richard Egarr oder dem Dirigenten Iván Fischer nahm Pieter Wispelwey 35 Alben zwischen 1990 und 2009 für Channel Classics auf.
Ob Solowerke, Kammermusik oder große Konzerte, Wispelwey suchte und suchte nach dem jeweils Passenden, erkundete die Klangmöglichkeiten von Darm- und Stahlsaiten (auch für sog. Alte Musik). Seine Partner spielten auf Instrumenten des 19. Jahrhunderts oder am Steinway. Auf jeden Fall war Wispelwey ambitioniert, was den Start seiner Karriere und seine ersten Einspielungen betrifft. Bis zu seinem 30. Geburtstag sollten die drei großen B’s auf historischen Instrumenten im Kasten sein. Pierre-Yves Lascar: „Das Resultat waren die ersten drei Veröffentlichungen bei Channel Classics mit sämtlichen Bach-Suiten sowie allen Sonaten von Beethoven und Brahms, während er sich zugleich als moderner Cellist mit Einspielungen von Britten und Kodaly beim Label Globe präsentierte.“
Die Auswahl der Instrumente zeugt ebenso von den präzisen Vorstellungen des Solisten über Werk und die Annäherung an einen jeweils optimierten Klang. Ein Barak Norman aus dem 17. Jahrhundert für die ersten fünf Suiten und ein Piccolo aus dem 18. Jahrhundert für die sechste Solosuite von J.S. Bach, um nur ein Beispiel zu nennen.
Tradition hat Wispelwey immer als Lebendiges begriffen, so wie es auch die Schöpfer großer Meisterwerke der Barockzeit bis heute halten. Bald emanzipierte sich Wispelwey von den Dogmen der Originalklangbewegung und suchte die Erkenntnisse aus dieser Praxis auf moderne Instrumente zu übertragen. Sein Spiel wirkt trotz starken formalen Bewusstseins ganz frei im Erschließen individueller Nuancen und Facetten, Stimmungen und Emotionen.
Die Faszination an einer Interpretation liegt weniger an der Technik, sondern darin, den Geist der Musik zu suggerieren, sagte Wispelwey einst und nannte dabei Pablo Casals als Vorbild. Wie Recht er doch hat, und vielleicht ist genau das das Geheimnis dieses Musikers abseits jeglicher Kategorisierung, der mit seinen Instrumenten eine Achse der Beredsamkeit schneidet, eine Verlebendigung erreicht, die auch extreme Tongebungen/Stricharten nicht scheut. Hören Sie z.B. die Aufnahme von Prokofievs Sinfonia Concertante mit dem Rotterdam Philharmonic Orchestra unter Vassily Sinaisky.
Immer wieder begeistern die gebirgsluftige Klarheit und der schlank fokussierte Ton samt daraus folgender virtuoser Beweglichkeit, was nicht nur, aber vor allem zeitgenössischem Repertoire zugutekommt. Ganz gleich, ob die Solosuiten von Benjamin Britten, die entsprechenden Stücke von Roger Sessions, Alexander Tcherepnin, George Crumb oder Brett Dean, es darf einmal bei der Befassung mit diesem nicht immer leicht zugänglichen Repertoire von einem Hörvermögen berichtet werden. Ein ganz besonderes Album bilden die Transkriptionen von ausgewählten Chopin Walzern, Préludes, Nocturnes, Mazurkas und Etudes für Cello auf einem Guadagnini (1760).
Nach Hören der Box ergibt sich das Bild eines einzigartigen künstlerischen Profils, das Wandlung als Prinzip und die Wahrhaftigkeit im Augenblick als oberstes Gebot begreift. Wispelwey ist ein begnadeter Geschichtenkommunikator auf seinem Instrument, wo Ernsthaftigkeit und Schalk, Hingabe und improvisatorische Spontanität eine wohlmundende Melange ergeben.
Ein Kompendium an Cellomusik, in exzeptionellen Interpretationen. Noch dazu ist die Box mit 2 Euro pro Tonträger auch ökonomisch ein Schnäppchen. Empfehlung!
Inhalt der Box:
- Johann Sebastian Bach: Cellosuiten BWV 1007-1012 (in zwei Einspielungen); Cellosonaten BWV 1027-1029; Präludium C-Dur BWV 846 aus WTK I; Präludium D-Dur aus BWV 1007; Präludium g-moll BWV 999; Siciliano aus BWV 1053; Andante aus BWV 971; Largo aus BWV 1056
- Ludwig van Beethoven: Cellosonaten Nr. 1-5 (in zwei Einspielungen); Variationen für Cello & Klavier op. 66, WoO 45, WoO 46 (in zwei Einspielungen); Cellosonate F-Dur op. 17 (Arr. Hornsonate)
- Joseph Haydn: Cellokonzerte H. 7b Nr. 1 & 2; Symphonie Nr. 104
- Robert Schumann: Cellokonzert op. 129; Fantasiestücke op. 73; Stück im Volkston op. 102 Nr. 2 „Langsam“; Adagio & Allegro op. 70
- Franz Schubert: Streichquintett D. 956; Arpeggione-Sonate D. 821; Cellosonaten D. 384, 385, 408 (arr. Violinsonaten)
- Johannes Brahms: Cellosonaten Nr. 1 & 2 (Nr. 1 in zwei Einspielungen); Cellosonate g-moll op. 78 „Regen“ (arr. Violinsonate / in zwei Einspielungen); Cellosonate op. 120 Nr. 1 (arr. Klarinettensonate)
- Antonin Dvorak: Cellokonzert op. 104; Variationen für Orchester op. 78; Rondo op. 94; Waldesruhe op. 68 Nr. 5
- Peter Tchaikovsky: Rokoko-Variationen op. 33 für Cello & Orchester; Andante cantabile op. 11 (Version für Cello & Harmonium & Version für Cello & Streicher)
- Camille Saint-Saens: Cellokonzert Nr. 1
- Dmitri Shostakovich: Cellokonzerte Nr. 1 & 2; Cellosonate op. 40
- Edward Elgar: Cellokonzert op. 85
- Serge Prokofiev: Sinfonia concertante op. 125 für Cello & Orchester; Cellosonate C-Dur op. 119
- Witold Lutoslawski: Cellokonzert
- Antonio Vivaldi: Cellokonzerte RV 413, 422, 424; Cellokonzert a-moll (mit Sätzen aus RV 421 & RV Anh. 146 / 415); Cellokonzert F-Dur (RV 410, 407, 411): Larghetto aus RV 195; Largo aus RV 190; Adagio aus RV 109; Allegro aus Cellokonzert D-Dur (Vivaldi als RV 404 zugeschrieben); Cellosonaten RV 39, 40, 42, 44-46
- Georg Philipp Telemann: Partita G-Dur TWV 41: G2 aus „Kleine Kammermusik“; Oboensonate g-moll TWV 41: G6 aus Tafelmusik III; Suite g-moll für Oboe & Bc TWV 41: G4 aus Der getreue Music-Meister; Oboensonate a-moll TWV 41: A3 aus Der getreue Music-Meister; Triosonate Es-Dur TWV 42: Es3 aus Essercizii musici“; Violinsonate d-moll TWV 41: D3 aus 12 Solos a violin ou traversiere avev la basse chiffree
- Max Bruch: Kol Nidrei op. 47
- Benjamin Britten: Suiten für Cello solo Nr. 1-3 (Nr. 3 in zwei Einspielungen); Cellosonate op. 65
- Max Reger: Suiten op. 131c Nr. 1-3 für Cello solo; 2 Stücke op. 79e; Suite op. 103a für Cello & Klavier; Wiegenlied aus Suite op. 79d für Cello & Klavier
- Frederic Chopin: Cellosonate op. 65; Walzer Nr. 1-3, 5; Preludes Nr. 2-4, 6, 7; Mazurken Nr. 43-45, 47, 52; Polonaise brillante op. 3; Etüde Nr. 19; Nocturne Nr. 20; Scherzo aus Cellosonate op. 65
- Francis Poulenc: Cellosonate
- György Ligeti: Sonate für Cello solo
- Peter Sculthorpe: Requiem für Cello solo
- Paul Hindemith: Sonate op. 25 Nr. 3 für Cello solo; 3 Stücke op. 8 für Cello & Klavier
- Sofia Gubaidulina: The Canticle of the Sun für Cello, Chor, Percussion; Préludes Nr. 1, 2, 4, 8, 9 für Cello solo; In Croce für Cello & Bajan
- Roger Sessions: 6 Stücke für Cello
- Brett Dean: One of a Kind-Ballettmusik für Cello solo & Tape
- Chiel Meijering: La Belle Dame sans Merci
- Anton Arenksy: Chanson triste op. 56 Nr. 3
- Karl Davidov: Am Springbrunnen op. 20 Nr. 2
- Zoltan Kodály: Sonate op. 8 für Cello solo
- Alexander Tcherepnin: Suite op. 76 für Cello solo
- Georg Crumb: Sonate für Cello solo
- Gabriel Fauré: Elegie op. 24; Romance op. 68; Piece pour violoncelle op. 77 „Papillon“
- César Franck: Cellosonate A-dur (nach der Violinsonate)
Dr. Ingobert Waltenberger