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MÜNCHEN/ Bayerische Staatsoper: KRIEG UND FRIEDEN (Premiere im Livestream). Vergangenheit und Gegenwart vereint

06.03.2023 | Oper international

Prokofieffs Oper „Krieg und Frieden“ in der Bayerischen Staatsoper (Livestream)/MÜNCHEN

Vergangenheit und Gegenwart vereint

sendung verpasst? sergej prokofjew: krieg und frieden (woina i mir): bayerische staatsoper, münchen vom 05.03.2023 (arte)

Ein imposantes Bühnenbild aus dem zaristischen Russland bietet Dmitri Tcherniakov in seiner Inszenierung von Prokofieffs Oper „Krieg und  Frieden“ nach dem Roman von Leo Tolstoj. Die Kostüme von Elena Zaytseva zeigen hier einen modernen Kontrast mit starkem Zeitbezug. In dem palastartigen Gebäude spielt sich das gesamte Geschehen ab, wo die Handlung mit der jugendlichen Natascha und dem greisen General Kutusow sich zwischen Krieg  und Frieden bewegt. Die Massenszenen besitzen eine starke dramatische Präsenz, die den Zuschauer nicht loslässt. Man sieht den Fürsten Andrei Bolkonski, der Natascha Rostow beim Singen belauscht und sich unsterblich in sie verliebt. Im zweiten Bild besucht Natascha einen Ball, bei dem der als Weihnachtsmann verkleidete Zar anwesend ist. Pierre Besuchow fordert seinen Freund Andrei auf, mit Natascha zu tanzen. Dieser träumt davon, dass sie seine Frau wird. Im dritten Bild haben sich dann Andrei und Natascha tatsächlich verlobt. Andreis Vater, der alte Fürst Bolkonski, ist von der Wahl seines Sohnes nicht begeistert und beleidigt Natascha. Unterdessen gesteht Anatol  Kuragin Natascha seine Liebe, was die Situation sehr kompliziert werden lässt, was auch die Inszenierung plastisch verdeutlicht. Das seelische Dilemma von Natascha fängt die Regie von Dmitri Tcherniakov sehr gut ein. Alle Fluchtversuche scheitern durch Verrat – und Natascha erfährt schließlich, dass Anatol bereits verheiratet ist.  Pierre fordert Anatol auf, Moskau zu verlassen. Der dramaturgische Spannungsbogen steigert sich. Der zweite Akt steht ganz unter dem Bann des drohenden Krieges zwischen Franzosen und Russen. Ein komödiantisches Glanzstück gelingt Tcherniakov bei der Gestaltung Napoleons, der seine Bediensteten systematisch schikaniert und in typischer Pose auf- und abmarschiert. Der Schlachtverlauf bestürzt ihn, denn die Russen lassen sich nicht besiegen. Als die Franzosen Moskau plündern, kommt es auf der Bühne zu tumultartigen Szenen. Auch Pierre gehört zu den Brandstiftern und soll erschossen werden. Er entgeht der Hinrichtung. Eine erschütternde Szene inszeniert Dmitri Tcherniakov am Schluss, als Andrei sich selbst erschießt und im Fieberwahn von Natascha träumt, die schließlich erscheint. Er stirbt in ihren Armen. Denissow erzählt Pierre, dass Andrei und Helene gestorben seien, Natascha jedoch lebe. General Kutusow, der zuletzt in einem Blumenmeer aufgebahrt wird, verkündet dem jubelnden Volk den Sieg. Mikroskopartige Beobachtungen und psychologisch fein durchdachte Szenen gehörten zu den Vorzügen von Tcherniakovs Inszenierung, der die gewaltigen Massenszenen zwischen Lenin-Büste sowie Tschaikowsky- und Schostakowitsch-Bildern geschickt unter einen Hut bringt.  Es kommt zu bizarren Situationen, als die Menschen sich gegenseitig einen Schweinskopf zuwerfen. Manche Szenen hinterlassen dabei einen stärkeren und schwächeren Eindruck. Wer den Film mit Audrey Hepburn kennt, wird manchmal ganz versteckt Parallelen finden.

Vladimir Jurowski dirigiert das Bayerische Staatsorchester sehr feinnervig und einfühlsam. Melodische Bögen, Ostinato-Passagen, Tremolo- und Pizzicato-Sequenzen offenbaren hier Prokofieffs unerschöpfliche klangliche Erfindungskraft. Dynamische Kontraste korrespondieren mit flirrenden chromatischen  Passagen, ungeheuren Schlagzeug-Ausbrüchen, marschartigen Rhythmen, Polka- und  Walzer-Szenen. Prokofieffs oft sarkastischer und draufgängerischer Elan kommt überzeugend zur Geltung. Nicht umsonst warf ihm die sowjetische Führung „formalistische Fehler unter dem Einfluss gewisser westlicher Strömungen“ vor. Rhythmen mit stürmischem Schwung und  dynamischer Vehemenz beflügeln hier auch die Sänger, die Überragendes leisten. Aus dem riesigen Ensemble sind an erster Stelle Andrei Zhilikhovsky als Fürst Andrei Bolkonski sowie Olga Kulchynska als Natascha Rostowa zu nennen, die vor allem auch schauspielerisch brillieren. Der schier unerschöpfliche Fluss der Kantilenen betört die Zuhörer. Mit subtil ausschwingender Empfindungskraft brilliert vor allem auch Tomas Tomasson als skurriler Napoleon. In weiteren Rollen fesseln Bekhzod Davronov als Anatol Kuragin, Arsen Soghomonyan als Graf Pierre Besuchow, Alexandra Yangel als  Sonja sowie der imposante Dmitry  Ulyanov als General Kutusow (um nur einige Sängerdarsteller zu nennen). Vladimir Jurowski gelingt es als Dirigent, die farbige Harmonik, den Zauber russischer Melismatik und die volksliedhafte Thematik sehr akribisch nachzuzeichnen. Die von David Cavelius einstudiertem Chöre leisten Hervorragendes. Dieses Meisterwerk ist jetzt zum ersten Mal überhaupt in München aufgeführt worden. Man kann deswegen von einem musikhistorischen Ereignis sprechen.

Großer Jubel für alle Beteiligten.

Alexander Walther

 

ALEXANDER WALTHER

 

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