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CD BEETHOVEN: 5 KLAVIERKONZERTE, CHORFANTASIE, RUDOLF SERKIN, RAFAEL KUBELIK dirigiert das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks; ORFEO

12.02.2022 | cd

CD BEETHOVEN: 5 KLAVIERKONZERTE, CHORFANTASIE, RUDOLF SERKIN, RAFAEL KUBELIK dirigiert das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks; ORFEO

Live Mitschnitte aus dem Herkulessaal der Münchner Residenz, Oktober/November 1977

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Rudolf Serkin, böhmisches Wunderkind mit russisch jüdischer Abstammung, Kompositionsschüler von Joseph Marx und Arnold Schönberg, debütierte bereits als 12-jähriger mit dem Klavierkonzert in g-Moll von Felix Mendelssohn-Bartholdy. Als Partner stand ihm kein geringeres Orchester als die Wiener Philharmoniker zur Seite. Mit dem Geiger Adolf Busch bildete er bald ein Duo und wirkte auch als Solist in Aufführungen des 1919 gegründeten Busch-Quartetts mit. Die Zusammenarbeit hatte auch private Folgen, Serkin heiratete 1935 des berühmten Virtuosen Tochter Irene. Das Exil ab 1933 führte den vor den Nazis Geflüchteten zuerst nach Basel, dann nach Kenia und schließlich in die USA. Da lehrte er am Curtis Institute of Music in Philadelphia und gründete 1950 gemeinsam mit Adolf Busch das Marlboro Festival in Vermont.

Beethoven, Schubert, Schumann, Brahms, Reger waren „seine“ Komponisten, ein spät mit Claudio Abbado gestarteter Zyklus der Klavierkonzerte von Wolfgang Amadeus Mozart für die Deutsche Grammophon blieb leider unvollendet.

Die im Herbst 1977 gemeinsam mit dem legendären Dirigenten Rafael Kubelik nun nachzuhörende Konzertreihe aller Beethoven Klavierkonzerte aus München stellt auf jeden Fall ein Kuriosum in der reichen Serkin-Diskographie dar. Auch wenn sich stilistisch seit den 70-er Jahren durch die historisch informierte Aufführungspraxis von Seiten der Orchesterkultur, der Artikulation und der Transparenz immens viel gerade in der Rezeption von Beethoven geändert hat, erscheint Rudolf Serkin mit seinem viril-sensitiven Spiel, seinem sachlichen Grundtonus und dem Streben nach einer klaren Form, seiner immens variablen Anschlagskunst unwahrscheinlich heutig.

Das klingt selbstredend nicht nüchtern und noch weniger trocken. Dort, wo Beethoven die Romantik ankündigt, darf es auch träumerisch zugehen, aber da sinkt keiner ins Daunenbett der Selbstverliebtheit. Pedal und Rubati kommen sehr bewusst und nach dem Motto „Weniger ist mehr“ zum Einsatz. Serkin als schon Mitt-Siebziger hinterlässt bisweilen den Eindruck eines jungen Heißsporns und ist im frühen Klavierkonzert in C-Dur, Op. 15 durchaus zu Schabernack und verschmitzten Spielwitz aufgelegt. Dass er seine Interpretation der späteren Konzerte aber auch mit Lebenserfahrung und schicksalsweiser Melancholie zu tränken vermag, erhebt sie in den Rang des exquisit Außergewöhnlichen. Ausnehmen möchte ich hier das Fünfte Klavierkonzert und die Chorfantasie, wo Serkin am 30.10.1977 einen hörbar nicht so guten Abend hatte.

Rafael Kubelik stellt sich im Vergleich zum so feinmechanisch sensiblen Serkin eher als stilistischer Antipode im traditionsreichen böhmischen Musikantentum dar. Mond und Sonne. Er ist ja auch ein ganz besonderer Fall von Dirigent, der etwa in den Mahler-Symphonien erstaunlich unsentimental zu Werke ging. Bei ihm herrscht ein zielstrebiger Formwille vor. Die Interpretationslinie speist sich in Kubeliks Sicht des hoch- bis spätromantischen Repertoires aus dem inneren Ausdruckskondensat der Partituren. Die schroffen Akzente, die Klüfte, die halsbrecherischen Übergänge werden ebenso zelebriert wie auf den gebührenden Wohlklang im nie zu Ende gehenden Sehnen und Schmachten geachtet. Auch er könnte sich – was Beethoven anlangt – unter die „modernen“ Lesarten reihen, falls einen nicht das doch ziemlich angegraute Klangbild (insbesondere das Orchester klingt oft flach und wie in einen kleinen Raum gestopft) eines Besseren belehren würde.

In Sachen musikalischer Dominanz scheinen sich Serkin und Kubelik permanent die Staffel zu reichen. Die handfesten Akzente in den bloßen Orchesterpassagen sowie das gezielte „Vor den Vorhang“ der jeweils führenden Instrumente weichen sofort einer sachte untergeordneten Begleitung, wenn Serkin in die Tasten greift. Das führt zu einer dynamisch welligen, kurzweiligen Gesamtsicht, zumal beide Altmeister in ihrem Streben nach klarer Artikulation doch jeweils von einem anderen Planeten zu kommen scheinen. Serkin ist ein Mondstaubexplorer, der jeden Ton mikroskopisch auf die Goldwaage legt, von allen Seiten beleuchtet und dann spontan für alles den passtrefflichen Anschlag zu haben scheint, während es Kubelik doch pauschaler, geradlinig vorhersehbarer, im fünften Konzert mit allzu behäbigen Tempi noch dazu ungeschlacht bauernschnitziger angeht.

Es gibt folglich keine spektakuläre Orchesterleistung zu bestaunen, nur der Chor des Bayerischen Rundfunks zeigt in der Chorfantasie wieder einmal, wo der Bartl den Most herholt. Die Box lädt vielmehr ein, über höchstes Pianistentum zu reflektieren, zu staunen, was alles an Anschlagsmodulation möglich ist und wie individuell und dennoch ganz dem Werk verpflichtet einer der besten Beethoven-Pianisten ever diese Schlachtrösser der Klavierliteratur live abseits der beiden Studioeinspielungen (Eugene Ormandy, Philadelphia Orchestra, Seiji Ozawa mit dem Boston Symphony Orchestra) aus dem Augenblick heraus meistert.

Dr. Ingobert Waltenberger

 

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