CD GUSTAV MAHLER: DAS KLAGENDE LIED – Wiener Singakademie, ORF Vienna Radio Symphony Orchestra; MICHAEL GIELEN; ORFEO
Elektrisierender Live-Mitschnitt aus dem Wiener Konzerthaus vom 8.6.1990
„Ach Spielmann, lieber Spielmann mein, das muss ich dir nun klagen; Um ein schönfarbig Blümelein hat mich mein Bruder erschlagen. Im Walde bleicht mein junger Leib! Mein Bruder freit ein wonnig Weib!“ Mahler
Gustav Mahler hat sich für dieses Gruselstück um Hochmut, Liebe, Betrug und Tod selber an den Schreibtisch gesetzt und nach Ludwig Bechsteins Märchen „Das Klagende Lied“ (aus dem 1856 erschienenen „Neuen deutschen Märchenbuch“) und der Brüder Grimm Geschichte „Der singende Knochen“ („Kinder- und Hausmärchen“) ein balladenähnliches Textbuch verfasst.
In den drei Teilen „Waldmärchen“, „Der Spielmann“ und „Hochzeitsstück“ wird die Mär einer heiratswilligen, aber kaprizierten jungen Königin und deren Tod erzählt. (1) Nur der soll sie bekommen, der ihr eine bestimmte rote Blume bringt. Zwei Brüder machen sich auf die Suche, der jüngere findet die Blüte. Aus Eifersucht wird er von seinem älteren Bruder mit dem Schwert getötet. (2) Genau am Tatort des Raubmords findet der Spielmann einen weißen Knochen, aus dem er sich eine Flöte schnitzt. Die aber singt vom Leid des toten jungen Mannes. (3) Auf dem Schloss der Königin wird Hochzeit gefeiert. Der schicksalshafte Spielmann kommt dazu. Die Flöte kündet von der grausigen Wahrheit, das Schloss stürzt ein.
Das Grandiose an dem jetzt erscheinenden, technisch erstklassig restaurierten Mitschnitt sind das spannungsgeladene, detailgenaue Dirigat von Michael Gielen, dem alle Mitstreiter bereitwilligst folgen. Gielen verwendet eine Mischfassung, die sich aus der ersten Version des ersten Satzes und den revidierten übrigen Teilen zusammensetzt. Die spätromantisch inspirierte Tonsprache ist schon ganz „Wunderhorn“-mäßig typischer Mahler. Der junge, gerade einmal 20-jährige Komponist (die Partitur stellte er 1880 fertig) legte mit dem „Klagenden Lied“ eine erstaunlich reife Komposition vor. Die Behandlung des Riesenorchesters, die spezifische Instrumentierung, der Sinn für Dramatik, die Klangmalerei von Natur und sich darin spiegelnden seelischen Vorgängen, das volksliedhafte Kolorit sind im Kern voll ausgebildet und ebnen den Weg für die kommenden Meisterwerke.
Das großartige ORF-Orchester spielt so farbenprächtig wie transparent auf. Michael Gielen gelingt es, das Getriebene, das peitschende Tempo, das Fatum in Klang und Dramaturgie einem antiken Drama gleich unbarmherzig und mit unerbittlichem Sog darzustellen. Die hypertrophen Klangentladungen stürzen wie Steinlawinen auf den Hörer ein. Ein wahrer Hörkrimi, atemberaubend!
Die von Herbert Böck einstudierte Wiener Singakademie beweist einmal mehr, zu welchen Höchstleistungen dieser große Wiener Amateurchor am Sitz des Wiener Konzerthauses fähig und wie unersetzlich er für das Kulturleben der Stadt Wien ist. Brigitte Poschner-Klebel bezaubert mit wundervollen Kuppeltönen ihres lyrisch leuchtenden Luxussoprans. Marjana Lipovseks üppig herber Alt, wie Pythia ahnungsvoll dunkel aus erdiger Macht strömend, prädestiniert sie als große Mahlersängerin. Ihre somnambul geheimnisvollen Soli gehören zum Kostbarsten der Aufnahme. David Rendall (Tenor) und Manfred Hemm ( Bariton) liefern sich anschaulich die entsetzlich blutige Brüderschlacht.
Fazit: Der große Konzertabend reiht sich als mustergültig aufbereitetes Tondokument in die allererste Reihe der umfangreichen Mahler-Diskographie.
Dr. Ingobert Waltenberger