25 Jahre Usedomer Musikfestival in Glanzbesetzung
Von Ursula Wiegand
Usedom, stürmische Ostsee vor Bansin, Foto Ursula Wiegand
Musik liegt in der Ostseeluft über der Insel Usedom. Immer. Dafür sorgen ganzjährig Wind und Wellen, vor allem im Herbst. Am 7. Oktober war Fortissimo angesagt. Presto, presto jagte der Sturm die Wogen an den Strand von Bansin. Wer sich dennoch unter dräuenden Wolken auf die Seebrücke wagte, musste sich gegen die Böen anstemmen. Überdies mischte sich dissonantes Möwengeschrei im Diskant mit den rauschenden Bass-Partien der Wälder. Insgesamt ein Naturkonzert sondergleichen.
Usedom, Baltic Sea Philharmonic am Ostseestrand, Foto Peter Adamik
Tags darauf war der rasante Wettergalopp vorüber, und alles spielte wieder Andante. Im Piano plätscherten nun die Wellen, im Pianissimo flüsterten die Sandkörner. Möwen und Kormorane saßen nun faul und friedlich hintereinander auf den Holzresten der 1957 abgebrannten Seebrücke von Heringsdorf. 1995 wurde sie rund 50 Meter entfernt neu erbaut und ist mit ihren 508 Metern der längste Seesteg Kontinentaleuropas.
Möwen und Seebrückenkopf Heringsdorf, Foto Ursula Wiegand
Plötzlich also sanfte Spätromantik in Bild und Ton. Viele Kinder zogen Schuhe und Strümpfe aus, um durch das noch recht warme Wasser zu waten. Eisbecher – „aber bitte mit Sahne“ (Udo Jürgens) – auf den Café-Terrassen waren wieder „in“ oder Matjesfilets im Brötchen zur Stärkung bei kilometerlangen Strandspaziergängen.
Stargast Anne Sofie von Otter bei den Usedomer Musikfestspielen 2018, Foto Ursula Wiegand
Diese landschaftliche Schönheit, die anerkannt gesunde Ostseeluft und Usedoms berühmte Bäderarchitektur bilden einen verlockenden Dreiklang. Der ist mit ein Grund, warum Künstlerinnen und Künstler gerne auf die Insel kommen, um beim Usedomer Musikfestival aufzutreten. Vom 22.09. bis zum 13.10.2018 feiert dieses besondere Festival seinen 25. Geburtstag. Erstmals zeigten und zeigen Gäste aus allen neun Ostseeanrainer-Staaten und Norwegens ihr Können und bewiesen – alle politischen Hürden überwindend – die durch das gemeinsame Musizieren entstandene Harmonie.
Kristjan Järvi, Foto Peter Adamik
Initiatoren des Grenzen überwindenden Musizierens waren und sind der Intendant Thomas Hummel und der inzwischen preisgekrönte estnische Dirigent Kristjan Järvi, der junge Menschen aus den Ostseestaaten und Norwegens im Orchester Baltic Sea Philharmonic auf Zeit höchst erfolgreich vereint. 700 hatten bislang die Chance dabei mitzuwirken.
2018 feiert nun dieses erfrischend jugendliche Orchester sein zehnjähriges Bestehen und hat in dieser Zeit in wechselnder Besetzung fast 100 Konzerte gegeben.
Waterworks mit Kristjan Järvi, (c) BMEF – Peter Adamik
Neuerdings setzen Kristjan Järvi und seine hoch motivierten, mitunter auswendig spielenden Musikanten/innen mit „Waterworks“ und „Nordic Pulse“ auf einen innovativen Mix aus Stücken, kombiniert mit Sound- und Lichtdesign. Mit „Waterworks“ begeisterte das Orchester bis Anfang 2018 rund 100.000 Konzertbesucher in 14 Ländern und 47 Städten. Im November wird „Waterworks“ im Wüstenstaat Dubai rauschen.
Stadt Usedom, Turm der spätgotischen St. Marienkirche, Foto Ursula Wiegand
Besonders glanzvoll ist die Geburtstags-Gästeschar. Selbst ein Weltstar wie Anne Sofie von Otter kam. Mit ihrem fabelhaften Mezzo brachte sie am 07. Oktober die Stimme Schwedens – begleitet von Leif Karner-Lidström (Klavier) und ihrem Sohn Fabian Fredriksson (E-Gitarre) – in der spätgotischen St. Marienkirche in Usedom Stadt großartig zu Gehör. Ein Ereignis in diesem geschichtsträchtigen, im 13. Jahrhundert gegründeten Städtchen.
Klassisch orientierte Lieder ihrer in Deutschland oft unbekannten Landsleute machten den
Anfang, gefolgt von einigen Brahms-Liedern. Beim „Es träumte mir“, fielen ihre reinen Höhen auf. Tatsächlich erreicht Frau von Otter mit Leichtigkeit das hohe C und sogar das hohe Cis. „Ich bin schon gefragt worden, ob ich ein fauler Sopran sei“, hat sie schon mal lachend erzählt.
Anne Sofie von Otter, Leif Kaner-Lindström (Klavier), Fabian Fredriksson, E-Gitarre, Foto Ursula Wiegand
Für alles, was sie von ABBA bis zu Opernarien singt, ist jedoch ihr Mezzo genau das Richtige, passt auch bestens zu Leonhard Bernsteins „A simple Song from Mass“ und zu den schlichten Liedern von Häftlingen aus dem Konzentrationslager Theresienstadt. Mit der im KZ umgedichteten „Countess Maritza“ (Gräfin Mariza) trumpft sie regelrecht auf. Diese Lieder, so sagt sie, sollten nicht vergessen werden. Das hat auch einen familiär-politischen Hintergrund. Ihr Vater, einst ein hoher Diplomat, hatte vergeblich versucht, andere Staaten über die Gräuel der Nazis zu informieren und wurde schließlich auf einen minderen Posten versetzt.
Zuletzt ist Johann Sebastian Bach an der Reihe. Sehr leise und ausdrucksvoll bringt sie sein „Komm süsser Tod“. Dass sie es überhaupt schafft, dieses Lied zu singen, ist mehr als bewundernswert, hat doch ihr Mann, der Theaterintendant Benny Fredriksson, nach unbewiesenen „Me-too“-Anschuldigungen, im März d. J. auf einer gemeinsamen Australien-Konzertreise Selbstmord verübt.
Vielleicht ist dieser Bach-Wunsch das persönliche Requiem einer tapferen Frau für ihren geliebten, in den Tod getriebenen Gatten und daher intensiv berührend. Zuletzt schreitet sie singend durch den Mittelgang der Kirche. Danach braust der Beifall auf, und sicherlich hoffen alle, dass sie erneut bei einem Usedomer Musikfestival erscheint.
Usedom, Schloss Stolpe, Renaissancebau, 16. Jh., Foto Ursula Wiegand
So wie der in Litauen geborene „Wiederkommer“ David Geringas, ein Rostropovich-Schüler und selbst schon lange ein weltbekannter Cellist. Seit 2005 reist er zu diesem Musikfestival an, gibt auch Meisterkurse auf Usedom im Schloss Stolpe, einem nun fein restaurierten Renaissancebau aus dem 16. Jahrhundert. Diesmal hat er vom 26.09. bis zum 01.10. hier viermal konzertiert, u.a. zusammen mit seiner Frau und seinen Schülern, und ein breit gefächertes Programm geboten.
Sväng, die finnischen Mundharmonika-Experten, Foto Ursula Wiegand
Darüber hinaus ist das Usedomer Musikfestival immer für Überraschungen gut, für Besonderes, das woanders kaum geboten wird. Gemeint ist „Pfiffig finnisch“ von der Gruppe Sväng, die vier Mundharmoniker-Künstler vereint. Mit den simplen Instrumenten aus Kindertagen sind diese hoch spezialisierten „Ton-Werkzeuge“ keineswegs zu vergleichen und aller Nuancen fähig. Wenn die Vier loslegen, scheint fast eine Big Band tätig zu sein.
Filip Jers, links außen, ein Einspringer aus Schweden und selbst auf allen Kontinenten unterwegs, spielt Diaton- und Chromat-Mundharmonikas, ebenso der Rechtsaußen Eero Turkka. Eher mittig musiziert auf seiner Harmonetta Jouko Kyhälä, der diplomierte Chef der Gruppe, der auch einige Stücke komponiert oder arrangiert hat.
Sväng mit Filip Jers und Jouko Kyhälä, Foto Ursula Wiegand
Kraft und Atem braucht vor allem Pasi Leino, der an bisschen an Hitchcock erinnert, wenn er beim Blasen über seine schwere Bass-Mundharmonika hinweg ins Publikum schaut. Alle tragen große, auffällige Ringe an ihren emsigen Fingern. Und dann fetzt die topfitte „Viererbande“ los, bringt traditionelle Weisen, zarte und flotte, spielt Polkas, Jazz, Swing und auch Sibelius – alles begleitet von lustigen Erklärungen. Zuletzt ein „Svängtime rag“, gefolgt von einer Jam Session. Die geht in die Beine, doch gar niemand wagt durch den Saal vom Hotel Nautic in Koserow zu tanzen.
Blick auf die St.Petri-Kirche von Benz, Foto Ursula Wiegand
Nächster Tatort: die Evangelische St. Petri-Kirche von Benz, deren Granitquader-Sockel aus der Zeit vor dem 13. Jahrhundert stammt Lyonel Feininger hat diese schöne Kirche mehrfach gemalt. Berühmt ist auch ihr blauer Sternenhimmel im Innern.
Noch berühmter sind die Berliner Philharmoniker. Fünf Streicher von ihnen sowie ein Pianist sind angereist und bringen „Russische Idyllen“. Neben Michail Glinka kommen dankenswerterweise auch weniger bekannte Komponisten zu Wort, so Alexander Aljabjew und Sergej Ljapunow.
Luiz Felipe Coelho und Marlene Ito, Foto Ursula Wiegand
Alle Interpreten, eine internationale Schar, werfen sich mit Verve in diese teils hochromantischen, teils äußerst geschwind dahin galoppierenden Werke, die oft an ein anstürrmendes Kosakenheer denken lassen. Voller Schwung und Hingabe musizieren die beiden Violinisten Luiz Felipe Coelho und Marlene Ito, ebenso Joaquin Riquelme Garcia mit seiner Viola. Knut Weber entlockt seinem Cello alle Facetten.
Knut Weber, Cellist, Foto Ursula Wiegand
An seiner Seite am Contrabass Gunars Upatnieks, der auf diese Weise seinen Geburtstag feiert. Im Hintergrund sorgt Mikhail Mordvinov, der Mann am Klavier, für den nötigen Drive. Die Wogen der Publikumsbegeisterung schwellen zuletzt dermaßen an, dass das Scherzo aus Ljapunows Klaviersextett im b-Moll wiederholt wird. In der Berliner Philharmonie ist solches kaum zu erleben.
Mikhail Mordvinov (Klavier), Luiz Felipe Coelho und Marlene Ito (Geige), Foto Ursula Wiegand
Am 11. Oktober steht noch eine Serenade im nun polnischen Swinemünde und dort im Miejski Dom Kultury auf dem Programm. Die Zusammenarbeit mit Polen beim Usedomer Musikfestival besteht schon länger und wurde nun am 29.09. mit der festlichen Aufführung von Bachs h-Moll Messe in der St. Nikolaikirche auf der polnischen Nachbarinsel Wollin gekrönt. – Am 12. 10. lässt sich im Kaiserbädersaal des Seebades Heringsdorf noch „Strauss am Meer“ erleben.
Ex-Kraftwerk Peenemünde, Spielort der Peenemünder Konzerte, Foto Ursula Wiegand
Am 13. Oktober endet nach all’ den täglichen Musikangeboten das Usedomer Musikfestival traditionsgemäß im Kraftwerk Peenemünde und dort mit dem Abschlusskonzert der Saison im Musikland Mecklenburg-Vorpommern. Die Radiophilharmonie des NDR Hannover spielt dann unter der Leitung von Robert Trevino.
Dort hat Kristjan Järvi am 22.09. schon das Eröffnungskonzert im Beisein von Bundeskanzlerin Angela Merkel dirigiert. Aus dem Riesenbau, der einst den Strom für die NS-Heeresversuchsanstalt – u.a. zur Entwicklung der Tod bringenden V2-Rakete lieferte – ist mehr und mehr ein Kraftzentrum des Lebens geworden.
Also Ende gut, alles gut und vorbei? Zum Glück ist das nicht der Fall. Auf Usedom wird kulturell immer etwas geboten. Vom 21. September bis 12. Oktober 2019 läuft dann das nächste Usedomer Musikfestival. Zuvor schon können Musikfans das Baltic Sea Philharmonic, geleitet von Kristjan Järvi, mit den neuen Stück „Midnight Sun“ am 26.06.2019 in der Berliner Philharmonie und am 02.07. 2019 in Hamburgs Elbphilharmonie erleben.
Ursula Wiegand