CD „REFUGE“ – LIV MIGDAL spielt Werke für Violine solo von J.S. Bach, Paul Ben-Haim und Béla Bartók, GENUIN
Die Violine als Musikinstrument des Jahres 2020 in vielen Facetten erlebbar
Refugium (und ich ergänze: Sinnfindung) in Musik, in Kunst? Welcher musische Mensch kennte das nicht? So ist das Programm des Albums universell, jedoch in der Wahl der Werke ganz spezifisch, weil Musik für J. S. Bach, Ben-Haim und Bartók nicht nur Beruf, sondern „in dramatischen Lebensphasen, in Grenzmomenten ihres Lebens auch Zuflucht“ bedeutete, resümiert Liv Migdal ihre Überlegungen und zieht den Geiger Yehudi Menuhin in die Entstehungsgeschichte der Stücke mit ein. Die CD folgt zudem dem wesentlichen Gedanken der Geige als Musikinstrument des Jahres 2020, das zum konkreten Ziel hat, ein Instrument in vielen unterschiedlichen Facetten zu beleuchten.
J. S. Bachs dritte Sonate für Violine solo in C-Dur, BWV 1005 entstand 1720, als seine erste Frau Maria Barbara plötzlich starb. Das Thema der monumentalen Konzertfuge erinnert an den Choral „Komm heil’ger Geist“, dessen Anfang identisch ist mit der Choralmelodie von „An den Wasserflüssen Babylon, da saßen wir mit Schmerzen.“ Liv Migdal mutmaßt, „dass es der Beistand des Heiligen Geistes ist, den Bach hier anruft.“ Liv Migdal meistert die Sonate mit technischer Bravour und strukturell klar. Vielleicht auch klanglich kühl und dunkel.
Béla Bartóks Violinsonate Sz. 117 wiederum ist auf Anregung von und für den Geiger Yehudi Menuhin geschrieben worden, der Bartók 1943 nach der Emigration in die USA kennenlernte. Bartók war nicht nur finanziell erschöpft, es zehrte noch dazu eine Leukämieerkrankung an den kreativen Kräften des ungarischen Genies. Menuhin wiederum spielte den Kriegsumständen entsprechend weniger für das traditionelle Konzertpublikum, als für amerikanische Soldaten und wohltätige Zwecke. Die viersätzige Violinsonate sollte Bartóks letztes vollendetes Werk sein und wurde von Bartók Menuhin aufgrund der technischen Schwierigkeiten auch in einer temperierten chromatischen Fassung (Halb- statt Vierteltonintervalle) für die Uraufführung 1944 angeboten. In der von Migdal präsentierten Aufnahme ist die Ursprungsversion des vierten Satzes in der Presto-Fassung der Mikrointervalle zu hören.
Was die intensive Auseinandersetzung mit Bartóks Musik für unsere Interpretin bedeutet, kann sie am besten in Wort fassen: „Als Spieler wirst du zu einem Kraftwerk von Gefühlen. Aggressivität ist da, auch Wut, Spuren einer Grenzerfahrung: Du hast nichts mehr zu verlieren. All das ist in diesem Werk eines Komponisten, der dem Tod ins Auge schaut. Explosivstoff liegt in der Musik. Nicht ohne Grund sprach Menuhin hier von dem vielleicht aggressivsten und brutalsten Musikstück seines Repertoires.“
Die Bartók-Sonate habe ich im Gegensatz zu Bach noch nie so intensiv und schicksalsgeladen gehört. Hier ist Liv Migdal ganz in ihrem Element. Die ständig wechselnden Emotionen, unfassbar und flüchtig, feuern sich an und kollabieren im nächsten Moment. Wir erleben ein auf der Geige zelebriertes inneres Wachen und Hineinlauschen in die Seele eines Menschen, der Schönheit und Glück erfahren hat, sich erinnert und vergeht. Die für Bartók so typische ungarische Folklore ist wie im Nebel verhangen, andere Bilder drängen in den Vordergrund, ein wütend ohnmächtiges Aufbäumen, eine Hand, die dennoch in letzter Minute tröstet. Musik als ein in Noten geschriebenes Buch.
Gerade das Hörerlebnis der Bartók Sonate mit Menuhin in Tel Aviv war bei Paul Ben-Haim Anstoß für die Komposition seiner Violinsonate solo in G-Dur., Op. 44 im Jahr 1951. Der aus Bayern stammende Paul Frankenberger war zunächst Chorleiter und Korrepetitor der Bayerischen Staatstheater unter Bruno Walter. Nach der Machtübernahme durch die Nazis 1933 emigrierte er ins damalige Mandatsgebiet Palästrina und wechselte den Namen auf Paul Ben-Haim (=Sohn des Heinrich). Infolge Menuhins Auftrag schrieb Paul Ben-Haim die Sonate in nur drei Tagen, die Uraufführung fand im Februar 1952 bin der Carnegie Hall statt.
Liv Migdal attestiert der Musik „extreme Klangsphären, Pulse des Aufbegehrens, im Lento e sotto voce sieht sie „einen abgründigen Monolog am Rande des Verstummens.“ Hier gelingen Migdal magische Momente der inneren Einkehr, legt sich Ruhe ins Land, weniger erschöpft als mit einem letzten Lächeln umsäumt. Großartig.
Ebenso wie bei Bach („ein brillantes Finale himmelstürmender Freude“) und Bartók („im Molto Allegro hören wir eine Entladung mit unbändigen Läufen“) entfaltet das Allegro molto „mit flammender Energie einen unwiderstehlichen Sog zurück ins Leben.“ Diese Formulierung erinnert mich an den wunderbaren Fellini-Film „Die Nächte der Cabiria“ mit Giulietta Masina, wo sich Cabiria am Ende, nach der gewaltigen Liebesenttäuschung bestohlen und einsam wieder aufrafft und den Marsch in ein neues, besseres Leben von vorn beginnt. Ist das nicht unser aller vornehmste Aufgabe nach (Ent)Täuschungen aller Art? Empfehlung für diese auch aufnahmetechnisch gelungene CD!
Dr. Ingobert Waltenberger