20 CD-Box „BBC Legends Vol.3“ mit Highlights aus den BBC-Archiven; ica Classics
Der unwiderstehliche Zauber der besten Live Aufnahmen der BBC
1998 wurde die CD-Serie BBC Legends mit memorablen Live-Mitschnitten aus den gut bestückten Archiven des britischen Rundfunks gestartet. Die meisten Einzel-Titel sind mittlerweile vergriffen. Was für ein Glück für Sammler, dass nun mit der Veröffentlichung der dritten 20 CD-Box viele der einst wohl aufregendsten „Lives“ wieder erhältlich sind, und das zu einem Preis von ca. einem Viertel der einstigen Vollpreis-CDs. Auch wenn die technischen Standards nicht denjenigen des Bayerischen Rundfunks standhalten können, ist die klangliche Qualität der historischen Aufnahmen durchwegs exzellent bis gut und variiert je nach den Kriterien Mono/Stereo bzw. dem jeweiligen Aufnahmezeitpunkt und Aufnahmeort.
Insgesamt erlaubt die Box Erst-Begegnungen mit oder das Wiederhören von mythischen Konzertereignissen der Jahre 1957-1987, von denen ich einige hervorheben möchte:
Karl Böhm dirigiert die „Zweite“ von Franz Schubert: Karl Böhm hat alle Schubert Symphonien mit den Berliner Philharmonikern eingespielt. Am 28 Juni 1977 stand der 83-jährige Böhm in der Royal Festival Hall am Pult und dirigierte das London Symphony Orchestra. Er musizierte die jeweils zweite Sinfonie von Schubert und Brahms. Mir gefällt besonders der überschwängliche Ton, den Böhm bei Schubert anschlägt, einer an Haydn orientierten und dennoch harmonisch so innovativen frühen Symphony des damals unbeschwerten und frohgemut wirkenden Wiener Meisters. Die erste öffentliche Aufführung der jugendlich schönen Symphonie hat erst 1877 in London stattgefunden. Und Böhm, der das Werk liebte, war der Richtige für dieses schwungvolle „Geburtstagsständchen“. Hören Sie sich diese formvollendete Wiedergabe, das berauschende Allegro vivace im ersten Satz oder das vor Energie berstende Presto des in Formel I Laune aufspielenden LSO an. Eine rare Sternstunde, wie sie im Buch steht.
Pierre Monteux dirigiert die „Eroica“ von Beethoven: Dem 88-jährigen Pierre Monteux, einem Monument an unerbittlich metikulöser Zeichengebung, ist eine „Dritte“ Ludwig van Beethovens vom 12.11.1960 zu verdanken, die es in sich hat. Der zur Zeit des Konzerts 85- jährige französische Dirigent verblüfft mit einer muskulös aufgerauten und dennoch transparenten Wiedergabe, die in unseren Ohren mehr als 60 Jahre später noch immer als Inbegriff einer modernen Lesart gelten kann. Was wir hören, ist weniger chauvinistisch denn im orkanumtosten Allegro molto siegestrunken, bei allem heldischen Brustklopfen voller Leichtigkeit, Tempo und Esprit. Kein Wunder, dass der Mann, der 1961 bei Vertragsunterzeichnung mit dem London Symphony Orchestra unbedingt eine Laufzeit von 25 Jahren, mit Option auf Verlängerung, abgesichert haben wollte, das einmal eingeschlagene Tempo gnadenlos hält. Eine der unglaublichsten Konzertmitschnitte überhaupt.
Ich finde auch die CD mit dem aus Odessa gebürtigen Shura Cherkassky höchst bemerkenswert. Im berühmten ersten Klavierkonzert von P.I. Tchaikovsky verzichtet der Wahllondoner auf brutal hämmernde Tastenattacken, sondern setzt auf knisternde Eleganz, klare Architektur und eine ausgewogene dynamische Balance auf das Gesamtwerk bezogen. Trotz oder gerade wegen der komplexest feingetunten Temporückungen seitens des Starpianisten ist die Partnerschaft mit Sir Georg Solti am Pult kongenial. Im Andantino erweist sich Cherkassky als sensibler Poet, von der darin aufploppenden französischen Chansonette „Il faut s’amuser, danser et rire“ geht ein geheimnisvoll lichtes Funkeln aus.
Vom mythischen russischen Pianisten Emil Gilels hat die BBC insgesamt vier Solo-CDs herausgebracht. Im Vol. 3 ist das Album mit Stücken von Scarlatti, Debussy, Beethoven, Scriabin und Prokofiev zu hören. Der Heinrich Neuhaus Schüler gilt als einer der bedeutendsten Pianisten aller Zeiten. Wie Cherkassky aus Odessa stammend, ist die ganze Bandbreite seines enormen Könnens vor allem in Live-Mitschnitten zu erfahren. Domenico Scarlatti artet bei Gilels nie in ein mechanisches Nähmaschinengestochere aus, sondern mit wohldosierter romantischer Einfühlung erlangen die sieben hochvirtuosen Stücken einzigartige emotionale Tiefe und universelles Profil. Claude Debussys „Pour le piano“ flutscht nicht konturlos ins Beliebige, sondern folgt artikulatorisch präzise einer ausgetüftelten Licht-Schattenregie. Bildhaft lebendig tanzt das sich in der Atmosphäre spiegelnde Wasser, die Anschlagskultur ist stupend.
Auch die anderen Discs bieten Überraschungen und Wundersames: So die exemplarische Lied-CD mit Sena Jurinac (Strauss „Vier letzte Lieder“) und Christa Ludwig (Mahler, Brahms), das von Benjamin Britten in ungewohnt flotten Tempi vital tröstlich dirigierte Mozart-Requiem (nur der verbrauchte Tenor von Peter Pears stört das spannenden Interpretationsexperiment) oder der deutsche Kult-Pianist Wilhelm Kempff mit spektakulären Beethoven- und Schubertdeutungen (Beethoven: Klaviersonate Nr. 22; Franz Schubert: Klaviersonate D. 625; 3 Klavierstücke D. 946; Impromptus D. 899 Nr. 3 & 4). Gemeinsam mit Karl Böhm und Pierre Monteux meine persönliche Lieblings-CD der Box.
Darüber hinaus kommen Sir John Barbirolli, Jascha Horenstein, Eugen Jochum, Sviatoslav Richter, Mstislav Rostropovich, Rudolf Serkin, Leopold Stokowski, Evgeny Svetlanov, Klaus Tennstedt, das BBC Symphony Orchestra, das BBC Northern Symphony Orchestra, das Philharmonia Orchestra, das Halle Orchestra, das English Chamber Orchestra, das London Philharmonic Orchestra, das London Symphony Orchestra, das New Philharmonia Orchestra zu Ton.
Inhalt der Box
CD Karl Böhm – Franz Schubert: Symphonie Nr. 2; Johannes Brahms: Symphonie Nr. 2
2. CD John Barbirolli – Edward Elgar: Symphonie Nr. 1; Introduction & Allegro op. 47
3. CD Sena Jurinac & Christa Ludwig – Richard Strauss: 4 letzte Lieder; Du meines Herzens Krönelein op. 21 Nr. 2; Ruhe, meine Seele op. 27 Nr. 1; Zueignung op. 10 Nr. 1; Wiegenlied op. 49; Ständchen op. 106 Nr. 1; Gustav Mahler: Lieder eines fahrenden Gesellen; Rückert-Lieder
4. CD Pierre Monteux – Luigi Cherubini: Anacreon-Ouvertüre; Ludwig van Beethoven: Symphonie Nr. 3; Hector Berlioz: Rakoczy-Marsch aus La Damnation de Faust op. 24
5. CD Wilhelm Kempff – Johann Sebastian Bach: Chromatische Fantasie & Fuge BWV 903; Ludwig van Beethoven: Klaviersonate Nr. 22; Franz Schubert: Klaviersonate D. 625; 3 Klavierstücke D. 946; Impromptus D. 899 Nr. 3 & 4 6. CD Leopold Stokowski – Jean Sibelius: Symphonie Nr. 2; Peter Tschaikowsky: Dornröschen-Suite op. 66; Ludwig van Beethoven: Egmont-Ouvertüre op. 84
7. CD Jascha Horenstein – Franz Liszt: Eine Faust-Symphonie
8. CD Benjamin Britten – Wolfgang Amadeus Mozart: Requiem KV 626; Benjamin Britten im Gespräch mit Donald Mitchell
9. CD Svjatoslav Richter – Ludwig van Beethoven: Klaviersonaten Nr. 9 & 10; Franz Schubert: Wanderer-Fantasie D. 760; Robert Schumann: Abegg-Variationen op. 1; Faschingsschwank aus Wien op. 26; Frederic Chopin: Etüde Nr. 4
10. CD Klaus Tennstedt – Ludwig van Beethoven: Symphonie Nr. 9
11. CD Shura Cherkassky – Peter Tschaikowsky: Klavierkonzert Nr. 1; Modest Mussorgsky: Bilder einer Ausstellung; Shura Cherkassky: Prelude pathetique; Nikolai Rimsky-Korsakov: Hummelflug
12. CD Eugen Jochum – Joseph Haydn: Symphonien Nr. 100 & 101; Paul Hindemith: Symphonische Metamorphosen über ein Thema von Weber
13. CD Rudolf Serkin – Johann Sebastian Bach: Capriccio BWV 993; Max Reger: Bach-Variationen & Fuge op. 81; Ludwig van Beethoven: Klaviersonaten Nr. 21 & 24
14. CD Evgeny Svetlanov – Dmitri Schostakowitsch: Symphonie Nr. 8
15. CD Klaus Tennstedt – Franz Schubert: Symphonie Nr. 9; Carl Maria von Weber: Oberon-Ouvertüre; Johannes Brahms: Tragische Ouvertüre op. 81
16. CD Mstislav Rostropovich – Joseph Haydn: Cellokonzert Nr. 1; Camille Saint-Saens: Cellokonzert Nr. 1; Edward Elgar: Cellokonzert op. 85
17. CD Gennadi Rozhdestvensky – Peter Tschaikowsky: Der Nussknacker op. 71 (Auszüge); Dmitri Schostakowitsch: Der Bolzen-Suite op. 27a (Auszüge); Igor Strawinsky: Scenes de Ballet
18. CD Henryk Szeryng – Wolfgang Amadeus Mozart: Violinkonzert Nr. 3; Antonio Vivaldi: Violinkonzerte op. 8 Nr. 1-4 „Die vier Jahreszeiten“; Allegro aus Violinkonzert RV 522
19. CD Malcolm Sargent – Ralph Vaughan Williams: Symphonie Nr. 4; Jean Sibelius: Symphonie Nr. 4
20. CD Emil Gilels – Domenico Scarlatti: Klaviersonaten K. 15, 27, 32, 125, 141, 466, 518, 533; Claude Debussy: Pour le Piano; Ludwig van Beethoven: Klaviersonate Nr. 27; Alexander Scriabin: Klaviersonate Nr. 4; Serge Prokofieff: Klaviersonate Nr. 3; Vision fugitive op. 22 Nr. 1 „Lentamente“.
Dr. Ingobert Waltenberger