CD: Wolfgang Sawallisch Orchestermusik – Aufnahmen 1980 bis 1991; ORFEO – Edition zum 95. Geburtstag des Dirigenten
Was haben Wolfgang Sawallisch und Karl Böhm gemeinsam? Also ich würde sagen, eine ganze Menge. Was die äußere Erscheinung betrifft, waren beide graue Buchhaltertypen, aber jede noch so kleinste Faser ihres Wesens bestand aus Musik. Für beide war Musik eine heilige Kunst. Beide, als streng Probende gefürchtet, ebenso unerbittlich Partiturtreue einfordernd, reüssierten besonders bei den Münchner „Hausgöttern“ Mozart, Strauss und Wagner. Ihr untrügliches Markenzeichen war das Offenbaren des Zaubers des Augenblicks auf der Basis hohen handwerklichen Könnens. Sawallisch und Böhm waren aber ebenso begnadete „Symphoniker“, besonders wenn es um Beethoven, Brahms oder Bruckner ging. Beide konnten den mit ihnen arbeitenden Musikern im besten Fall allerhöchste und konzentrierteste Leistungen abringen, seien es Orchesterleute oder Sänger. Sie hinterlassen ein vielfältiges Erbe auf Tonträgern, wobei die legendären Mitschnitte aus Bayreuth einen besonderen Stellenwert einnehmen.
Der am 26. August 1923 in München geborene Wolfgang Sawallisch wirkte 21 Jahre lang als Generalmusikdirektor an der Bayerischen Staatsoper, länger als jeder andere in der Position. Von 1971 bis 1992 hatte dieser auch als Pianist großartige Künstler damit prägenden Anteil am reichen Musiklebens Münchens.
Als Tribut zu Sawallischs 95. Geburtstag veröffentlicht das Label ORFEO eine Vielzahl an Aufnahmen, darunter Birgit Nilssons Bayreuther Isolde-Premiere von 1958, den legendären „Fliegenden Holländer „ebenfalls aus Bayreuth mit George London und Leonie Rysanek von 1959, über die Aufnahmen aus der Zeit an der Bayerischen Staatsoper von 1971 bis 1992, und seine auf Tonträger erhaltenen Auftritte als Pianist von Kammermusik oder als Liedbegleiter u. a. von Fischer-Dieskau, Prey oder Margaret Price.
Die vorliegende 8 CD-Box ist digitalen Studio-Aufnahmen mit symphonischem Repertoire von Bruckner, Pfitzner bis hin zu Weber gewidmet. Das Brahms-Requiem, die beiden Symphonien von Carl Maria von Weber sowie Instrumentales aus den Pfitzner-Opern „Palestrina“, „Das Käthchen von Heilbronn“ und „Die Rose vom Liebesgarten“ hat Sawallisch mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks eingespielt. Eine CD ist Ouvertüren von Wagner (Meistersinger), Verdi (La forza del destino), Mozart (Zauberflöte), Beethoven (zweite Leonoren) und Brahms (Tragische) gewidmet. Hier sowie bei den Bruckner-Symphonien Nr. 1, 5, 6 und 9 konnte Sawallisch mit seinem vorzüglichen Bayerischen Staatsorchester Flagge zeigen.
Für mich sind die vier eingespielten Bruckner-Symphonien eine Offenbarung an urwüchsigem Musikantentum. Sicherlich erklingen sie weniger esoterisch und klangpoliert wie etwa bei Herbert von Karajan, dafür entwickeln die dem Orgelspiel nachempfundenen Klangcluster einen ungeheuren Sog. Sawallisch entwickelt große satzübergeifende Spannungsbögen. Dass er den Musikern alles abverlangt und dennoch die Freiheit des Moment voll auskostet, überträgt sich intensiv auf den Hörer, der glaubt, live-Aufführungen zu lauschen. Das Brahms „Requiem“ ist schon aufgrund der Solisten Margaret Price und Thomas Allen eine tolle Sache, der Chor des Bayerischen Rundfunks singt – wie zumeist – modellhaft.
Die Box ist wegen der unfasslichen Qualitäten der beiden Münchner Orchester sowie ebenso des bedingungslos alle Grenzen auslotenden, und dennoch bodenständigen Dirigats des großen Wolfgang Sawallisch uneingeschränkt zu empfehlen. Die Klangqualität ist schlichtweg umwerfend und vielen symphonischen Neuerscheinungen haushoch überlegen.
Dr. Ingobert Waltenberger