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11 CD-Box: ANTON BRUCKNER Gesamtaufnahme aller 11 Symphonien als Vorgriff auf den 200. Geburtstag des Komponisten am 24.9.2024; Sony

Die Wiener Philharmoniker und Christian Thielemann in Feierlaune

13.10.2023 | cd

11 CD-Box: ANTON BRUCKNER Gesamtaufnahme aller 11 Symphonien als Vorgriff auf den 200. Geburtstag des Komponisten am 24.9.2024; Sony

Die Wiener Philharmoniker und Christian Thielemann in Feierlaune

phil

Wien und das symphonische Schaffen Anton Bruckners war alles andere als Liebe auf den ersten Ton. Die Uraufführungen der „Zweiten“ (wird heute als sog. „Nullte“ gezählt) und erst recht der dritten, Richard Wagner gewidmeten Symphonie in d-Moll erlebten eine durchwachsene Aufnahme von Teilen des Publikums wie der Kritik. Vor allem dem berühmt-berüchtigten Brahmsianer Eduard Hanslick war die gesamte Neudeutsche Schule, zu der er auch den „Wagnerianer“ Bruckner zählte, ein Dorn im Auge. Er verwarf Bruckners unkonventionelle symphonische Musik lange Zeit wortreich und hartnäckig. 

Diese Zeiten sind längst vorbei. Bruckner gilt heute als einer der originellsten und eigenwilligsten Symphoniker der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, ein musikalischer Monolith, der in keine Schublade passt. Die Wiener Philharmoniker, das Uraufführungs-Orchester vieler Bruckner Symphonien, haben schon in der Vergangenheit exquisite Konzerte und Aufnahmen mit Symphonien des Orgelvirtuosen und Meisters aus Ansfelden bestritten. Dirigenten wie Walter, Furtwängler, Knappertsbusch, Karajan, Böhm, Solti, Abbado, Maazel, Giulini (besonders empfehlenswert) oder Boulez hatten Wesentliches und Erhellendes zu einzelnen Werken dieses Komponisten zu sagen, was jederzeit auf Tonträgern nachprüfbar ist.

Während aber etwa das Royal Concertgebouw Orchestra (Bernard Haitink), die Berliner Philharmoniker (Karajan, Barenboim), die Münchner Philharmoniker (Celibidache, Gergiev), das Sinfonieorchester des Bayerischen Rundfunks (Maazel), das Gewandhausorchester Leipzig (Blomstedt, Nelsons), die Staatskapelle Dresden (Jochum), das Orchestra de la Suisse Romande (Janowski) Gesamteinspielungen (die sich oft auf die offiziell gezählten Nr. 1-9 beschränkten) unter einem einzigen Dirigenten vorgelegt haben, ist die nunmehr veröffentliche Gesamtaufnahme aller 11 Bruckner-Symphonien unter der musikalischen Leitung von Christian Thielemann diesbezüglich eine Novität für das Orchester, zumal auch die beiden frühen Symphonien in f-Moll und d-Moll eingespielt wurden.

Pandemiebedingte Absagen von Tourneen und Festivals erlaubten die Einstudierung dieser Frühwerke, die weder das Orchester noch Dirigent jemals zuvor im Auge hatten. Vielleicht ist das Ergebnis auch deshalb besonders geglückt. Da wurde viel geprobt, ein ungeheuer frischer Atem durchweht die Musik. Thielemann bürstet Bruckners relativ frühe symphonische Geniestreiche gehörig gegen den Strich, lässt die Kanten vulkanisch aufeinanderprallen.

Die Aufnahmen starteten im April 2019 und fanden live bei den Salzburger Festspielen (Nr. 4, 7 und 9) oder im Wiener Musikverein mit oder ohne Publikum statt.

Alle Symphonien waren schon Gegenstand von Einzelveröffentlichungen, zu jeder gibt es eine Vielzahl an Würdigungen. Daher nur so viel: Die Publikation dieser ersten Gesamtaufnahme mit den heutigen klangtechnischen Möglichkeiten ist schon deshalb so wichtig, weil hier erstmals der ganze symphonische „Bruckner“ mit dem spezifischen Klang der Wiener Philharmoniker vorliegt (Streicher, Klarinette, Horn, Oboe, Pauke).

Christian Thielemann, der in seinen musikalisch/administrativen Leitungsfunktionen an Opernhäusern durchaus umstritten ist, agiert hier in seinem ureigensten Terrain. Das hohe künstlerische Einverständnis zwischen Dirigenten und Orchester ist bei dieser hoch- bis spätromantischen Literatur in jeder Sekunde zu spüren und selbstredend mögen es Thielemann und die Wiener Philharmoniker opulent und luxuriös. „Thielemanns“ Bruckner ist auch deshalb bemerkenswert, weil er liebevolle Detailarbeit mit weit gespannten Bögen, kosmische Piani mit wuchtigen Blecheruptionen auf das Natürlichste zu verbinden weiß. Er geht Bruckner eher meditativ mit hohem Strukturbewusstsein der Kompositionen an, Vordringen in Grenzbereiche an Schroffheit (Haitink) oder brennend scharfer Artikulation (Harnoncourt) sind ihm fremd. Bei den neuen Aufnahmen ist kein Weihrauch zu spüren, vielmehr ist die Melange aus Kontrapunkt und Wagnerschen Harmoniewelten, Ländlern und der Orgel abgeluchsten Blechfanfaren, himmlischen Lyrismen und hochgetürmten Steigerungen hier eine besonders bekömmliche.

Für Thielemann können Bruckners Symphonien wie Therapien oder Übungen in Konzentration bzw. als Antidot gegen jeglichen oberflächlichen Zerstreuungswahn wirken. „Je mehr Krach auf der Welt ist, desto mehr ist Bruckner aktuell.“ Wer widerspräche Thielemann, der die Einladung Bruckners nach Maßhalten und Einhalten als besonders wichtig erachtet und daher auch die Momente der Stille in den Partituren intensiv auskostet.

Hinweis: Christian Thielemann, der zum Jahreswechsel 2023/24 auch das Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker dirigieren wird, wird zum ersten Mal in der Geschichte dieser Traditionskonzerte eine Quadrille von Anton Bruckner in das Programm aufnehmen.

Gewählte Versionen und Fassungen: Symphonien Nr. 1, c-Moll WAB 101 (1891 Version; Nowak Edition); Nr. 2, c-Moll WAB 102 (1877) Version, Carragan Edition); Nr. 3, d-Moll WAB 103 (1878 Version, Nowak Edition); Nr. 4, Es-Dur WAB 104 „Romantische“ (1880 Version, Haas Edition); Nr. 5 B-Dur WAB 105 (1878; Nowak Edition ; Nr. 6, A-Dur WAB 106 (1881; Nowak Edition); Nr. 7, E-Dur WAB 107 (1883, Haas Edition); Nr. 8, c-Moll WAB 108 (1887/90 Version; Haas Edition); Nr. 9, d-Moll WAB 109; 1894; Nowak Edition), Symphonie f-Moll WAB 99 „Studiensymphonie“; Symphonie Nr. 0, d-Moll WAB 100

Die 11 CD-Box ist und wird nicht der einzige Beitrag zum Bruckner-Jahr bleiben, aber sie ist – nicht zuletzt dank ihrer Präsentation mit einem 170-Seiten-Booklet – eine der spektakulärsten und musikalisch glanzvollsten.

Die Aufnahmequalität entspricht den höchsten Anforderungen.

Dr. Ingobert Waltenberger

 

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