Ante Jerkunica, Venera Gimadieva . Copyright: Deutsche Oper/ Bernd Uhlig
BERLIN / Deutsche Oper: LA SONNAMBULA, Premiere, 26.1.
Statt einer romantischen Semiseria eine bittere Gesellschaftsfarce aus Schlöglmühl
Die langen, romantisch sehnsuchtsgeladenen Melodieachterbahnen, virtuosen Arien, Duette und Ensembles des Belcanto gaben seit ihrer Wiederentdeckung in den Fünziger Jahren stets perfekte Vehikel für Primadonnen und lyrische Tenorstars mit Höhen wie der Mount Everest ab. Seit es wieder einige junge Sopranistinnen gibt, die in die von Ungemach malträtieren Figuren mit Koloratur, vokalen Wahnsinn im Gepäck und Anmut schlüpfen können, öffnen sich auch die Spielpläne vermehrt für solch delikat verzierten Ausdrucksgesang. Die unendlichen Melodien haben es ja nicht nur Verdi und Wagner, sondern – Hand aufs Herz – den meisten aller Melomanen angetan.
Die eher selten gespielte semiseria „Die Nachtwandlerin“, Vincenco Bellinis siebte Oper, ist es nun also, die die Deutsche Oper als kulinarisch eingängigen Ohrenschmaus zur seelischen Labsal des stressgeplagten Berliner Publikums erkoren hat.
Völlig ohne Risiko wurden Jossi Wieler und Sergio Morabito von der Stuttgarter Oper eingeladen, ihre damals von Kritikern der Zeitschrift „Opernwelt“ zur „Inszenierung des Jahres“ gekürte“ Version aus dem Jahr 2012 in Berlin neu einzustudieren. Dieses Konzept dürfte eine gewisse Tradition haben, war schon die vorangegangene Premiere von „La Sonnambula“ am Haus vom 22. März 2006 eine Übernahme einer rustikalen Produktion der Oper Leipzig in der Regie von John Dew. Damals sangen Juan Diego Floréz und Annick Massis die Hauptrollen.
Sergio Morabito, demnächst Chefdramaturg an der Wiener Staatsoper (ich empfehle hierzu Manuel Brugs Überlegung „Gruselig oder Genial?“ zur Lektüre), und Jossi Wieler, demontieren diese eigentlich rührselige Unschuldslamm-Geschichte auf eine tiefenpsychologisch brutale, aber dennoch stringente Art und Weise. Zu der Ballett-Pantomime von Eugène Scribe haben sie sich als Quelle für das Opernlibretto auch die Comédie-Vaudeville “La Villageoise somnambule ou Les deux fiancées” von Armand Dartois und Henri Dupin näher angesehen. Wie auch immer: Aus der doch recht unglaubwürdigen Teenie-Liebesgeschichte mixt das Regieduo eine bitterböse Farce à la Henrik Ibsen mal Thomas Bernhard. Die schräge Gesellschaftssatire rund um die arme somnambule Waise Amina spielt hier in einem ganz und gar spießigen Dorfwirtshaus – ohne Alpenfolklore und Natur versteht sich.
Das Bühnendekor und die Kostüme im Retro-Stil der Siebziger Jahre wurden von Anna Viebrock, als Haus und Hofausstatterin von Christoph Marthaler bekannt geworden, entworfen. Sie hat sich von der abgehängten Stimmung aus dem österreichischen Dokumentarfilm “Postadresse 2640 Schlöglmühl” von Egon Humer inspirieren lassen. Ein Tonnengewölbe, von kaltem Neonlicht und nackten Glühbirnen erhellt, dient als Versammlungsraum und Treppenhaus. Eine Stoffwand mit Durchblick trennt zwischendurch das Schlafzimmer des Grafen ab.
Hier schaltet und waltet eine durch und durch verdorbene Gesellschaft, materiell, gierig und mordlüstern, Schnaps an den Holztischen trinkend. Unschuld gibt es in diesem Szenario nicht. Unsere “Nachtwandlerin” stellt sich in der ersten Schlafwandelszene ihre Hochzeitsnacht mit Elvino vor. Nur kommt sie blöderweise in das Schlafzimmer des Grafen Rodolfo, der eigentlich ihr Vater ist. Von den Dorfleuten erwischt, und von Elvino der Untreue bezichtigt, löst er die Verlobung, Blut klebt am Laken. Kurz kehrt der reiche Bauernsohn zu seiner Ex, der Wirtin Lisa zurück. Als er erfährt, das auch sie mit dem feschen Grafen zugange war, kehrt er doch zu Amina zurück. Besser als nix. Die große Schlussarie samt Stretta ist hier als Wahnsinnsszene gedeutet. Im Fieberdelirium träumt Amina von einer Fehlgeburt. Als sie erwacht, ist sie mit Elvino verheiratet. Glück sieht anders aus.
Das in Stuttgart erfolgreich erprobte Konzept fügt sich zu einen spannenden Theaterabend auf Basis eines harten Realismus. Den romantischen Kern der Musik ironisiert die Inszenierung in vielen Details. Irgendwie lässt die unglaublich morbide Schönheit der Gesangslinien das Zynische und Transzendente der so gedeuteten Geschichte nicht nur zu, sondern stärkt die Oper dramaturgisch sogar.
Musikalisch ist die Bilanz jedoch durchwachsen. In der Premierenserie sind die russische Sopranistin Venera Gimadieva und der mexikanische Tenor Jesús León, der die Produktion schon aus Stuttgart kennt, als das gesellschaftlich ungleiche Liebespaar aufgeboten. Wie auf Youtube nachzuhören, machte Gimadieva erste Erfahrungen mit dieser Partie schon 2013 am Bolshoi Theater. Mit ihrem klaren, hell timbrierten, intonationssicheren, mehr lyrischen als koloraturgewandten Sopran bietet sie eine gediegene Leistung. Mädchenhaft macht sie die Ängste Aminas, so wie ihre Mutter zu enden (als Geist taucht immer wieder eine ebenso rotschopfige obdachlose ältere Frau auf) und ihre prekäre Stellung als Waise in der erzkatholischen Gesellschaft glaubwürdig. Auf der Sollseite steht eine wenig resonanzreiche, kaum expansionsfähige und von den Farben her noch kaum wandelbare Stimme. Den Wunsch Bellinis, mit den Mitteln des Gesangs “den Zuhörer weinen, erschaudern und sterben zu lassen“, löst sie (noch) nicht ein. Ich hätte mir auch darstellerisch eine differenziertere Leistung erwartet. Da hat Jesus León als Elvino schon die besseren Karten. Als erstklassiger tenore di grazia, wie er im Büchl steht, gibt der Mexikaner eine Lehrstunde in Sachen Belcanto. Außerdem vermag er sich auch als erfolgsverwöhnter und gleichzeitig enorm verunsicherter Dorfschnösel eindringlich in das Panoptikum einer selbstgerechten hermetischen Dorfgesellschaft zu fügen.
Als Graf Rodolfo verkörpert der kroatische Bass Ante Jerkunica den graumelierten Weiberhelden mit einem gewissen Anstand. Vom Stimmvolumen und der absoluten Rollenidentifikation her ragt er gemeinsam mit der grandiosen Alexandra Hutton in der Rolle der nach Aufstieg gierenden Dorfwirtin Lisa absolut heraus. Wie Hutton in ihrem Plüschjäckchen rauchend über die Bühne fegt, jeden “Strohhalm“ nach einem Mann auswirft und auch als ‚attrice cantante‘ mit beispielhafter Diktion und Ausdruck reüssiert, ist ereignishaft. Für mich bietet sie den rundum besten Auftritt des Abends. Aber auch das gelungene Hausdebüt der legendären Mezzosopranistin Helene Schneiderman aus dem Stuttgarter Ensemble in der Rolle der Ziehmutter Teresa ist denkwürdig und wird mit Ovationen belohnt. Sie liefert ein Kabinettstück als umtriebig schlaue, im richtigen Moment das Schicksal gerade bügelnde Glucke. Auch stimmlich blieben keine Wünsche offen. In kleineren Rollen waren Andrew Harris als Alessio, Jörg Schöner als Notar und Rebecca Shein als Strige zu hören.
Der Chor der Deutschen Oper Berlin, der in diesem Stück ja einen gewaltige Rolle hat, hätte rhythmisch präziser sein und musikalisch ausgefeilter klingen können. So mancher Wackelkontakt mit dem Orchester wird sich in den kommenden Aufführungen vielleicht noch beheben lassen.
Als Wermutstropfen der Produktion gab es im Vorfeld der Premiere wohl eine tiefgreifende Differenz mit dem ursprünglich vorgesehenen Dirigenten Diego Fasolis (wir erinnern uns an viele barocke Glanzlichter und eine gelungene Norma mit Cecilia Bartoli), der im Unfrieden vor der Hauptprobe abgereist war. Stephan Zilias, lange Jahre in Bonn tätig, hat alle Proben begleitet und konnte dennoch aus meiner Sicht nur einen Achtungserfolg landen. Das Orchester der Deutschen Oper Berlin und der Einspringer haben mich stilistisch ganz und gar nicht überzeugt. Wie Strudelteig gedehnt, spannungsarm, in Dynamik und Phrasierung unausgewogen wies der erste Akt gefährliche Längen auf. Nach der Pause hat es mit der inneren Dramaturgie zwar besser geklappt, ein belcantesker Hörgenuss bot sich aus dem Orchestergraben jedenfalls nicht.
Am Ende wie üblich, großer Jubel für alle auf der Bühne Ausführenden, und eine Mischung aus Bravogeschrei und Buhs für das Produktionsteam.
Ingobert Waltenberger