Ab 30. November 2012 in den österreichischen Kinos
WAS BLEIBT
Deutschland / 2012
Regie: Hans-Christian Schmid
Mit: Corinna Harfouch, Lars Eidinger, Ernst Stötzner, Sebastian Zimmler u.a.
Jede Familie sei auf ihre eigene Art unglücklich, heißt es, und diese, die Regisseur Hans-Christian Schmid in diesem bemerkenswerten Film auf die Leinwand bringt, ist es ganz besonders. Dabei wirken Gitte und Günter, die in einer prachtvollen Villa scheinbar idyllisch irgendwo in einer Kleinstadt leben, wie das ideale, großbürgerlich-intellektuelle späte Ehepaar mit erwachsenen Kindern. Betucht, er ist Verleger, sie war wohl einmal etwas wie eine Schauspielerin, heute steht sie gerne in der Küche und kocht (putzen wird sie wohl nicht selbst).
Die Söhne kommen zu Besuch, da ist nicht alles ideal, Marko, der mit kleinem Sohn aus Berlin anreist, ist wohl von seiner Frau getrennt, Jakob hat so gar keinen Erfolg mit seiner Zahnarztpraxis. Aber als die Familie wieder einmal zusammenkommt (Jakobs Freundin ist auch dabei), sollte Liebe, Freude, Eierkuchen herrschen.
Hans-Christian Schmid lässt den Kinobesucher schrittweise nicht nur spüren, dass dem nicht so ist, sondern auch warum. Und daran sind nicht die halb gescheiterten Söhne schuld. Die so elegant „ganz normal“ wirkende Mutter ist nämlich psychisch krank – und hat beschlossen, es nicht mehr zu sein. Will nach Jahrzehnten medikamentöser Behandlung wieder ins „normale“ Leben zurück. Will ganz ohne Pillen und Behandlung wieder als vollwertiger Mensch daran teilhaben. Und das jagt die Männer ins blanke Entsetzen.
Da erst wird klar, wie unnatürlich eigentlich alles war – wie man Gitte mit Samthandschuhen behandelt hat, wie ein kleines Kind, vor dem man alles fernhalten will. Wie sehr alle bereits ihr eigenes Leben geführt haben (vor allem der Gatte mit Freundin quasi vor der Nase, die Buchhändlerin des Ortes), wie die Gesunden die Kranke vor der Tür ließen – und nicht in die Normalität zurücklassen wollen. Aus Sorge wohl auch – ebenso wie aus Bequemlichkeit. Denn das würde doch nur neue Probleme schaffen, nicht wahr?
Kaum je wurde eine Familientragödie so unaufgeregt, so unpathetisch und gerade in dieser Ruhe guten Benehmens und „rücksichtsvollen“ Todschweigens so unendlich spannend erzählt wie hier. Schmid braucht keinerlei Ausbrüche zu evozieren, um einen Psychothriller auf der allerstärksten Ebene familiärer Spannungen aufzubauen. Und das wird schlechtweg faszinierend gespielt.
Natürlich dreht sich alles um Corinna Harfouch als Gitte: Sie ist gewiss eine der stärksten Darstellerinnen des deutschen Films. Wie sie ihre Verzweiflung wegsteckt, gewissermaßen rücksichtsvoll den anderen gegenüber, ist ein Meisterstück, dem man geradezu mit offenem Mund zusieht. Der Entschluss, den sie fasst, ist begreiflich – hier nur lässt sich der Regisseur auf eine fast mystische Ebene ein, ohne je zu straucheln. Aber es geht um die Beziehung zwischen Mutter und ältestem Sohn, wenn die Verschwundene, im Wald gesucht, für ihn noch einmal wiederkommt…
Lars Eidinger spielt diesen Sohn Marko, und er ist von seiner Schauspielerpersönlichkeit so undurchdringlich, dass man in ihm mehr hineingeheimnissen möchte (Negatives nämlich), als in der Figur angelegt ist – er ist vielleicht nur eine Spur sensibler als die anderen. Denn Bruder Jakob (Sebastian Zimmler mit ganz realen bürgerlich-finanziellen Versager-Ängsten) hat mit seinen eigenen Problemen zu tun, und Vater Günter (Ernst Stötzner) möchte eigentlich nichts als auf und davon von der Kranken und einmal ein unbelastetes Leben führen – so egozentrisch wie begreiflich. Ein Kind (Egon Merten als Zowie) und eine praktische junge Frau als Jakobs Gefährtin (Picco von Groote als Ella) ragen nur am Rande in das Geschehen hinein, das sich zwischen der Frau, ihrem Mann und ihren Söhnen abspielt.
„Was bleibt“? Ja, was bleibt? Die bittere Erkenntnis, dass das Leben immer weiter geht und dass die Lebenden sich ihr Recht über jene, die sie hinter sich lassen, nehmen. Bei der letzten Berlinale uraufgeführt, hätte dieser Film alle Preise für großes Kino bekommen müssen. Er bekam sie nicht – was bleibt, ist dennoch ein großer Film, der alles zeigt und alles sagt, was er vermitteln möchte, ohne auch nur eine unechte, dramatische Kinogeste dafür zu benötigen.
Renate Wagner