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VENEDIG: Santa Maria della Pietà von Venedig – Die Kirche Antonio Vivaldis

29.09.2020 | REISE und KULTUR

Santa Maria della Pietà von Venedig – Die Kirche Antonio Vivaldis

Von Andrea Matzker und Dr. Egon Schlesinger


Chiesa della Pietà im September 2020. Foto: Andrea Matzker

Im heutigen Bau der Chiesa Santa Maria della Pietà an der Riva degli Schiavoni in Venedig, wenige Schritte entfernt von Markusplatz und Dogenpalast, der erst nach dem Tod von Antonio Vivaldi fertiggestellt wurde, arbeitete der Meister nicht, aber er erlebte die ersten sechs Jahre ihrer großzügigen Konstruktion mit und prägte sie maßgeblich. Besonders ihre akustischen Vorzüge hat die Kirche höchstwahrscheinlich und hauptsächlich ihm zu verdanken. Der Innenraum hat abgerundete Ecken, bildet also ein Oval, und verfügt über einen Eingangsbereich, der extra geschaffen wurde, um den Lärm des geschäftigen Lebens außerhalb der Kirche vom Innenraum möglichst abzugrenzen und fernzuhalten. Sie wurde als Kirche aber auch als Auditorium angelegt. Das Oratorium, in dem Antonio Vivaldi wirkte, existiert nicht mehr. Das Einzige, was noch davon übrig ist, sind zwei Säulen und die große Wendeltreppe im Gebäude neben der Chiesa della Pietà. Sie befinden sich im heutigen Hotel Metropole, und man kann sie besichtigen. Diese ovale Treppe hat Antonio Vivaldi auf jeden Fall täglich benutzt, und wenigstens sie ist original erhalten. Der gesamte Komplex des Antico Ospedale della Pietà besteht jedoch nach wie vor seit seiner Gründung im Jahre 1376 und fungiert immer noch ununterbrochen als Ausbildungsstätte für junge Mädchen, genau wie zu Vivaldis Zeiten, nur nicht in dem großen Ausmaß von damals. Die Einrichtung heißt heute Istituto Provinciale per l’Infanzia Santa Maria della Pietà, beherbergt Waisen und junge Mütter mit Kindern und kultiviert weiterhin die Ausübung der Musik, besonders die der Meister, die dort wirkten.


Chiesa della Pietà. Blick zur Tür auf die Lagune. Foto:Andrea Matzker

Davon zeugt auch der interessante Museumsparcours, der in den Räumlichkeiten und den Wandelgängen der oberen Kirche eingerichtet ist und genauestens über die soziale Bedeutung der damaligen vier Ospedali im sozialen und kulturellen Leben der Lagunenstadt Aufschluss gibt. Es sind Gewänder zu besichtigen, die die Mädchen damals kunstvoll fertigten, viele andere Gegenstände aus dem Alltagsleben, eine ganze Sammlung kostbarer Barockinstrumente und vor allem sehr berührende Glücksbringer und Andenken, die die unglücklichen Mütter ihren ausgesetzten und der Kirche anheimgegeben kleinen Mädchen mitgaben in der Hoffnung, sie irgendwann einmal wieder sehen, wiedererkennen und auslösen zu können. Die einmal dort ausgebildeten Künstlerinnen durften erst ab einem Alter von 40 Jahren heiraten und mussten dann aber auch auf ihre Kunstausübung vollkommen verzichten, da sie wegen ihrer europaweit gerühmten Qualitäten und Kunstfertigkeiten als zu große Konkurrenz für ihre Künstlerkollegen auf dem freien Arbeitsmarkt galten.

Chiesa della Pietà: Das dazugehörende Institut hinter der Kirche. Foto: Andrea Matzker

Die Mädchen wurden einem strengen Auswahlverfahren unterworfen, um dann in den Disziplinen unterrichtet werden zu können, die ihrer Persönlichkeit am nächsten kamen. Vivaldi komponierte speziell für die Mädchen, gab diesen Kompositionen auch die Namen der betroffenen Solistinnen und erwarb Instrumente, die deren jeweiliger Begabung entsprachen. In der Sammlung des Museums befinden sich unter anderem auch eine wertvolle Violine von Giuseppe Guarneri (1698-1744) und ein Cello von Matteo Goffriller (1659-1742). Die jungen Künstlerinnen erhielten oft als Nachnamen die Kategorisierung der Instrumente, die sie spielten. Dies geschah, um ihnen die jeweils für sie geschriebenen Konzerte zuordnen zu können, da sie ja bei Eintritt in das Institut ihre originalen Geburtsnamen abgelegt hatten.

Über Venedig hinaus waren die Künstlerinnen der Pietà bekannt für ihr Können, trugen eine Granatapfelblüte im Haar und waren rot gewandet. Im 18. Jahrhundert befanden sich Künstler, Adelige und Intellektuelle auf der Grand Tour durch Italien. Dabei durfte nie verpasst werden, die Konzerte der venezianischen Konservatorien zu besuchen und anzuhören. Die berühmten „Putte“, wie die Pietà-Töchter genannt wurden, oder ihre Kolleginnen aus den drei anderen Instituten waren damals ein Muss. Man konnte sie allerdings nie sehen, da sie oben hinter blumengeschmückten, schmiedeeisernen Gittern auftraten. Goethe, zum Beispiel, erwähnt in seiner Italienischen Reise eines dieser Konzerte, das er besuchte.

Antonio Lucio Vivaldi war am 4. März 1678 während eines Erdbebens als eines von neun Kindern des Violinvirtuosen, Berufsmusikers und Barbiers Giambattista Vivaldi und seiner Frau Camilla in Venedig geboren worden und erhielt eine Nottaufe. Schon als kleiner Junge vertrat er seinen Vater auf der Violine im Markusdom. Nach seiner Priesterweihe fing er an, im Mädchenkonservatorium der Pietà zu unterrichten und arbeitete dort als Lehrer für Violine, Viola d’amore und Cello, sowie als Chorleiter, Cembalist und Komponist. Diese Arbeit hatte man ihm angeboten, da er, scheinbar aus Krankheitsgründen (Angina pectoris oder Asthma?), eine ganze Messe nicht durchstehen konnte, und seine außerordentliche musikalische Begabung und sein Können offensichtlich waren.

Um seine schillernde Persönlichkeit ranken sich unzählige Anekdoten. Er wurde der „Prete rosso“ (der rote Priester) genannt, wobei man sich nicht einig ist, ob es wegen seiner vom Vater vererbten roten Haarfarbe oder der Erkennungsfarbe der Pietà war. Bereits sein Vater wurde als „Rossi“ oder „Rossetto“ bezeichnet. Antonio arbeitete fast 40 Jahre lang an der Pietà und schrieb über 500 Kompositionen, darunter sehr viele Sonaten, Solokonzerte, davon allein 221 für Violine und Orchester, Opern und eine der berühmtesten Kompositionen der Musikliteratur überhaupt: Die heute meistgespielten und äußerst beliebten „Vier Jahreszeiten“, die 1725 zum ersten Mal gedruckt erschienen. Bereits vorher galt er als einer der berühmtesten europäischen Komponisten seiner Zeit, und kein geringerer als der etwas jüngere Johann Sebastian Bach war so begeistert von seinen Werken, dass er einige davon für Cembalo transkribierte. Für einen eventuellen Berufswechsel hatte sich Vivaldi 1740 nach Wien begeben, starb dort aber unter unglücklichen Umständen am 28. Juli 1741. Er wurde am heutigen Karlsplatz auf dem Spittaler Gottesacker beigesetzt.

Aber auch unter anderen Aspekten ist die Chiesa della Pietà ein Juwel. Sie wurde von 1745-1760 vom venezianischen Architekten Giorgio Massari (1687-1766) erbaut, nach dessen Entwürfen auch die Fassade, allerdings erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts, fertiggestellt wurde.

Die Kirche verfügt weiterhin über eine originale Orgel des venezianischen Orgelbauers Pietro Nacchini (1694-1769) aus dem Jahre 1759. Nacchini war der damals bedeutendste Spezialist seines Faches in Venedig und gilt als Begründer der sogenannten venezianischen Orgelschule des 18. Jahrhunderts. Seine Instrumente befinden sich unter anderem in der Chiesa dei Frari, in der Chiesa di San Giorgio, im Dom von Padua, im Dom von Aquileia und im Markusdom. Die Orgel in der Pietà wird zwar heute elektrisch betätigt, der alte Blasebalg mit einer Kordel existiert und funktioniert bei Bedarf aber immer noch.

Die „Verkündigung Mariens“ am Hauptaltar wurde vom Venezianer Giambattista Piazzetta gemalt, der noch vor Beendigung des Gemäldes starb. Sein Schüler Giuseppe Angeli beendete das Werk.

Es ist erwiesen, dass ein weiterer großer Venezianer, der Maler Giambattista Tiepolo, persönlich vom 13. Juni 1754 bis zum 2. August 1755, also in 15 Monaten, sämtliche Fresken der Kirche selbst fertigte. Es war durchaus nicht üblich oder selbstverständlich, dass der Meister das ganze Werk eigenhändig fertigte. Normalerweise gab es viele Schüler, die im Auftrag und nach den Entwürfen ihres Lehrers arbeiteten. Doch spätestens nach der großen Renovierung der Werke im Jahre 2015 konnte man zweifelsfrei feststellen, dass jeder Pinselstrich vom Meister selbst stammt. Ähnlich wie in der Sixtinischen Kapelle, in der Michelangelo nach anfänglichen Versuchen mit Schülern, unzufrieden über deren Fähigkeiten, das gesamte Fresko in jahrelanger Arbeit und, abgehängt vor etwaigen neugierigen Blicken, allein fertigte.


Chiesa della Pietà. Deckengemälde von Tiepolo. Foto: Andrea Matzker

Man darf davon ausgehen, dass Tiepolo von seinem Auftrag so begeistert war, dass er, dem Zweck der Pietà als Konzertsaal voll entsprechend, ein riesiges himmlisches Konzert an die Decke über dem zentralen Innenraum zauberte. Es trägt den Titel „Ruhm oder die Krönung der unbefleckten Maria“ aber auch „Aufnahme Mariens in den Himmel“. Da gibt es Saiteninstrumente, ein Cembalo, einen Kontrabass zwischen Trompete und Langhalslaute, viele weitere Instrumente und vor allem sind die singenden Engel, bei genauerem Hinschauen scheinbar tatsächlich abgebildete, reale Gesichter der damaligen Künstlerinnen des Hauses, die sich im Alter von 11 bis 70 Jahren befanden und nicht immer den durchschnittlichen Anforderungen eines Schönheitsideals entsprachen. Die dargestellten Sängerinnen haben unterschiedliche Gesichter und manch einer fehlt auch, wahrscheinlich der Realität entsprechend, ein Zähnchen… Seit seiner aufwändigen Reinigung und Restaurierung erstrahlt das Himmelskonzert wie zu den Zeiten seiner Entstehung.


Chiesa della Pietà: Die Sängerinnen des Freskos (Detail). Foto: Andrea Matzker

Eine von Grund auf durch und durch original venezianische Konstruktion, errichtet, geschmückt, ausgemalt, belebt und beseelt von Venezianern, ist die Chiesa Santa Maria della Visitazione, wie sie auch genannt wird, an sich schon ein Gesamtkunstwerk und einzigartiger Kulturschatz. Im 14. Jahrhundert vom Franziskaner Fra‘ Pietruccio von Assisi als soziale Einrichtung und Waisenhaus gegründet, im 15. Jahrhundert als Oratorium ausgebaut, die heutige Ansicht im 18. Jahrhundert erhalten und im 20. vervollständigt, war das Institut seit nunmehr 700 Jahren allein guten, sozialen und kulturellen Zwecken gewidmet und war ununterbrochen in dieser Funktion tätig.


Chiesa della Pietà: Musikerin aus dem Deckenfresko (Detail): Foto Andrea Matzker

Zum derzeitigen Stand der Dinge: Die große Bühne vor dem Hauptaltar der Kirche ist beheizbar; es finden regelmäßig Konzerte und Ausstellungen statt. Das Museum ist auf Anfrage mit Führung zu besichtigen. Dazu gibt es einen kleinen Katalog „La Pietà a Venezia – Arte, musica e cura dell’infanzia fra tradizione e innovazione“. Zur Zeit wird die Fassade renoviert und ist mit einem Werbebanner der 77. Filmfestspiele und deren Sponsor Campari verkleidet.

Der Gesamtkomplex „Vi. Ve. Vivaldi Venezia“ allein schon ist eine Reise wert.

 

 

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