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Tallinn: Das 13. Gesangs- und Tanzfest der Jugend hat alle begeistert (30. Juni bis 2.Juli 2023)

10.07.2023 | REISE und KULTUR

Tallinn: Das 13. Gesangs- und Tanzfest der Jugend hat alle begeistert

Singen ist das Lebenselixier der drei Baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen. Nach rd. 50 Jahren Sowjetherrschaft – und genau am 50. Jahrestag des Hitler-Stalin-Paktes – bildeten am 23. August 1989 etwa zwei Millionen Menschen die 620 km lange „Baltische Kette“ durch alle drei Länder und haben sich so auf friedliche Weise ihre Freiheit ersungen.

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Begeistertes Singen beim Gesangsfest der Jugend. Foto: Ursula Wiegand

„Heilig ist das Land“, war das Motto des 13. Gesangs- und Tanzfestes der Jugend in Tallinn vom 30. Juni bis zum 2. Juli 2023. Doch die Esten meinen damit nicht nur ihr eigenes Land!

Die 778 Chöre, die diesmal dabei waren, sangen wundervoll. Singen gehört zu Estland, das ist essentiell für die nur 1,3 Millionen Einwohner. Das hält sie zusammen und macht sie stark. 48 Prozent der Menschen zwischen 15 und 90 Jahren haben bereits an Sängerfesten teilgenommen, singend oder zuhörend, ergab eine repräsentative Befragung.

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Jetzt singen die jungen Männer. Foto: Ursula Wiegand

Diese Feste finden alle fünf Jahre statt, auch die 1962 eingeführte Jugend-Variante. Aus Pandemie-Gründen musste das Fest im Vorjahr vertagt werden, wurde jetzt nachgeholt und ein besonderer Erfolg.

„In Estland ist das Singen schon in den Kindergärten obligatorisch und in den Schulen ein Pflichtfach“, erklärt Kaie Tanner, die an der Estnischen Musikakademie studiert hat. Auch erinnerte sie daran, dass diese Gesangs- und Tanzfeste seit 2003 zum unantastbaren UNESCO-Welterbe gehören.

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Chorleiterin Kaie Tanner mit ihren kleinen Sängerinnen. Foto: Ursula Wiegand

Das gilt auch für Kaie Tanner. Sie schult 4 Chöre für den estnischen Rundfunk, die nun auf dem Gesangsfest großartig gesungen haben. Ihre Jüngsten sind 6-8 Jahre alt, die nächste Gruppe 8-11 Jahre. Im Radio Kinderchor singen die 11-15 Jährigen, im Mädchenchor die 14-20 Jährigen.

Ist das Stimmentraining schwierig bei solchen Altersunterschieden? „Nein, es kommt nur auf die Methode an“, lacht Kaie. Gerade ist Pause, und so setzt sie sich unter einen Baum zu „ihren Kindern“.-

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Mädchenchöre jubeln, Foto Ilmars Znotins

 

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Junge Mutter mit Baby beim Sängerfest. Foto: Ursula Wiegand

 In einem anderen Chor fällt eine junge Mutter mit ihrem Baby auf dem Arm auf. Dieses Kind wird die schönen Melodien vielleicht besonders früh erlernen.  

Gast-Chöre sind auch immer dabei. Gekommen waren der deutsche Kammerchor Christian-Rausch-Schule Bad Arolsen und der Chor „Sacred Hearts“ aus Österreich. Sie mussten aber wie alle ausländischen Chöre in der estnischen Sprache singen. Auch ein chinesischer Chor hat das vor einigen Jahren hingekriegt.

Denn Text und Musik sind in Estland untrennbar, und das passt perfekt. Die estnische Sprache mit ihrem auffällig rollendem „r“ wirkt melodisch. Sie gehört zusammen mit Finnisch und Ungarisch zum finno-ugrischen Zweig der so genannten uralischen Sprachfamilie. Laulupido heißt solch ein Sängerfest, und das kling gleich wie Musik.

Sehr groß waren aber auch die Einflüsse der Hanse, zu der einst vier estnische Städte gehörten. Das damals Reval genannte Tallinn wurde reich und ist wohl die best erhaltene mittelalterliche Hansestadt überhaupt. Tallinns faszinierende Altstadt mit den dicken Mauern und Türmen, den ehemaligen Speicherbauten, Patrizierhäusern und Kirchen zählt schon seit 1997 zum UNESCO-Weltkulturerbe.

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Blick in die Altstadt von Tallin mit Wehrtürmen und Olaikirche. Foto: Ursula Wiegand

Na     Nach dem Start der Liederfeste 1869 in der Universitätsstadt Tartu, werden seit 1896 alle Gesangsfeste in Tallinn abgehalten, seit 1947 auch gemeinsam mit einem Tanzfest. Neuerdings ist Tallinn bei der UNESCO als „kreative Stadt der Musik“ gelistet.

Kreativ war man dort auch beim diesjährigen Gesangs- und Tanzfest der Jugend. Pärt Uusberg, der Künstlerische Leiter, erklärte die fabelhaften Gesangsleistungen mit der pandemiebedingten Festival-Verschiebung, die ein besonders langes Stimmen-Training erlaubte.

Doch diese besondere Klarheit der Stimmen, die einigen Gästen sofort auffällt, ist vermutlich auch der Ostsee, den dichten Wäldern und den zahlreichen sommerlichen Regenfällen zu verdanken, die die Luft säubern. edenfalls waren die kräftigen Knaben- und strahlende Mädchenstimmen intonationsrein, und bei den Girls schien keine Höhe unerreichbar. Wachsen in Estland womöglich die feinsten Soprane für Europa heran?

Doch von nichts kommt nichts. Gefordert sind sie alle, gehen doch den Gesangsfesten mindestens zweijährige Stimm-Schulungen und strenge Wettbewerbe voraus. Bei diesem Festival leisteten insgesamt 657 Dirigenten und Dirigentinnen, die meisten von ihnen in der Vorbereitung, sehr gute Arbeit.

Alle Sängerinnen und Sänger, die es geschafft hatten, waren super glücklich. Sie und das Publikum spendeten den Dirigenten und den zahlreichen Dirigentinnen schon vor den Darbietungen heftigen Applaus und danach nochmals. Dirigent Taavi Esko, am Samstag bei den Proben noch im lockeren weißen Hemd, ging das sichtlich zu Herzen

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Dirigent Taavi Esko, am Sonntag im Festgewand. Foto: Rene Mitt

Das Programm startet immer mit „Koit“ (Dämmerung) in der Fassung von 1904 (!), das die Chöre zusammen mit dem Publikum singen. Nicht wenige Esten haben dann Tränen in den Augen. Im Text geht es um die Macht der Lieder, und das hat sich bereits bewahrheitet.

Das Dirigat übernahm Heli Jürgenson, und sie wird die Künstlerische Leiterin beim schon erwähnten Gesangs- und Tanzfest vom 3.-6. Juli 2025.

Danach folgt stets die Nationalhymne „Mu isamaa, mu õnn ja rõõm“, die in der Sowjetzeit verboten war. Selbstverständlich waren Präsident Alar Karis und Premierministerin Kaja Kallas anwesend, und genau so erwartet es das Publikum. Die ehemaligen Präsidenten Kaljulaid und Ilves erschienen ebenfalls.

Insgesamt dienen diese Gesangs- und Tanzfeste seit Estlands Freiheit nicht politischen Zwecken. Sie sind ein geschichtsträchtiges, hochkarätiges Kulturereignis mit religiösem Touch und ein Freudenfest für alle. Wie bei den olympischen Spielen wird vorher wochenlang eine Flamme durch Estland bis auf die sog. Sängerwiese getragen.

„Natürlich“ war das Symphony Orchester der Estnischen Akademie für Musik und Theater zur Stelle. Für den richtigen Klang der traditionellen Folksmusik sorgten u. a. Fiddeln, Dudelsäcke, Diatonic Akkordeons und Kannels. Letztere, früher auch in Österreich verwendete Saiteninstrumente, gelten auch als nationales Symbol von Estland.

Trotz aller Wertschätzung ihrer Traditionen bleiben die Esten nicht in der Vergangenheit stecken. Speziell für dieses Gesangsfest wurden 18 neue und recht unterschiedliche Lieder komponiert oder neu arrangiert wie der Hit  SATA-SATA im Walzertakt.

Unter den Dirigierenden fiel Lydia Rahula nicht nur durch ihre flammend roten Haare, sondern auch durch ihre temperamentvolle Zeichengebung bei dem Lied auf „Du bist schön, mein Vaterland“ auf. Sie erhielt starken Applaus. Diese Gesangsfeste sind sehr emotionale Ereignisse für alle.

Tönu Kaljuste, der viele Werke von Arvo Pärt dirigiert hat und auch im Ausland bekannt ist, brachte als vorletzten Song „Mu isamaa on minu arm“, das während der Sowjetbesatzung als “heimliche” Nationalhymne fungierte und daher nach wie vor wichtig ist.

Der Text beginnend mit „Mein Vaterland, das ich liebe“, trifft nach wie vor die Herzen vieler Esten. (Die vielfach zu lesende Behauptung, dass mit der jetzigen Nationalhymne stets das Gesangsfest endet, ist also falsch, wurde mir aus Tallinn bestätigt.).

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Dirigent Aarne Saluveer beim Pausengespräch. Foto: Ursula Wiegand

Danach folgt immer ein Abschiedslied, und diesmal war es ein neu arrangierter Song, dirigiert von dem international geschätzten Musikpädagogen Aarne Saluveer: Mit dem Text „Meine Freude ist endlos“ traf er genau die Stimmung des begeisterten Publikums. Zuvor, in einem Pausengespräch, hatte er auch auf die mutigen Rock-Sänger und ihre wichtige Rolle bei der Wiedererlangung von Estlands Freiheit verwiesen.

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Tanzfest. Wirbelde Tänzerinnen und Tänzer. Foto: Ursula Wiegand

Anschließend steuerten viele sogleich die Kalev-Arena an, wo eine große Anzahl von Tanzenden in ihrer farbenfreudigen traditionellen Kleidung mit akkurat einstudierten Tänzen das Publikum entzückte. Was aber so leicht und charmant aussieht, ist einem mehrjährigen Training und vielen Auftritten zu verdanken. Bei solchen  Choreographien darf niemand aus der Reihe tanzen.

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Drei hübsche junge Frauen beim Tanzfest. Foto: Ursula Wiegand

Diejenigen, die das Ihre schon geleistet hatten, schauten sich das wirbelnde Geschehen von oben an. Der Höhe- und Endpunkt, genannt „Tuljak“, ein von Anna Raudkats initiierter Abschlusstanz, wurde besonders heftig bejubelt.

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Kinderchöre fröhlich im Regen bei der Prozession zur Sängerwiese. Foto: Ursula Wiegand

Selbst der Regen am folgenden Sonntag trübte die Stimmung keineswegs. Dieser Tag mit der 5 Kilometer langen Prozession ist das eigentliche Ereignis. Fröhlich singend sowie Fahnen und Fähnchen schwenkend zogen die Chöre, begleitet von Zuschauern, stundenlang vom Friedensplatz in Tallinn bis zur Sängerwiese nahe der Ostsee. Dort angekommen, wurde jeder Chor aufgerufen, was Freudenschreie auslöste.

 

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Türkis macht eh alles wett. Foto: Ursula Wiegand

Der Präsident war erneut gekommen. Dass es bei den Gesangs- und Tanzfesten regnet, ist keine Seltenheit. Viele Kinder trugen Capes, die Blechbläser zumeist nur T-Shirts. „O Regen, mein Bruder“, lautet ein altes Lied. In Estland, wo die Temperaturen im Winter bis auf minus 20 Grad sinken, sind die Menschen sehr abgehärtet. Aber Türkis, getragen als Hosenröcke von schönen jungen Frauen, macht das alles wett., genau wie das schwungvolle Dirigat vom fein gewandeten Taavi Esco und der schicken Lydia Rahula.

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Lydia Rahula, ganz schick, dirigiert mit schwung. Foto: Rene Mitt

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Fröhliches Singen im Regen. Foto: Ursula Wiegand

Viel leuchtendes Sonnengelb brachte der fröhlich singende Kinderchor trotz Regen auf die Sängerwiese und hatte vielleicht eine positive Langzeitwirkung.

Bei einem heftigen Gewitter am Nachmittag wurden dann alle klitschnass, auch die Dirigenten, denn die haben auf dem hohen Podest „kein Dach überm Kopf“. Manche Zuschauer rannten zu den Ausgängen, doch die Chöre flüchteten nicht. Nach einer Pause sangen sie tapfer weiter und das lockte sogar die Sonne heraus, so dass Zuschauer und Zuschauerinnen auf die Sängerwiese zurückkehrten. Per saldo begeisterten 23.139 Chorsänger/innen und Orchester-Musiker das Publikum. Zusammen mit den Tanzenden waren es sogar 31.415 Teilnehmende.

Doch nach dem Fest ist vor dem Fest. Schon jetzt laufen, wie anfangs erwähnt, die Vorbereitungen auf das noch viel größere Fest vom 3.- 6. Juli 2025. Dann singen Kinder und Erwachsene gemeinsam.   

Ursula Wiegand

 

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