Schleswig-Holsteinisches Landestheater
FLENSBURG/ Landestheater: ROXY UND IHR WUNDERTEAM – Premiere
Schleswig-Holsteinisches Landestheater Flensburg:
ROXY UND IHR WUNDERTEAM
Operette von Paul Abraham
Premiere am 15.12.2024
Ein Starkes Ensemble gestaltet die halbszenische Aufführung (Foto: Henrik Matzen)
Seit der Wiederentdeckung der verloren geglaubten Originalpartitur von Paul Abraham erobert Roxy und ihr Wunderteam die Bühnen im Sturm. Die Erstaufführung der bühnenpraktischen Rekonstruktion von Henning Hagedorn und Mathias Grimminger fand 2014 an der Oper Dortmund statt. Es folgten Produktionen am Staatstheater Augsburg (2017), an der Komischen Oper Berlin (2019), an der Wiener Volksoper (2021), an der Bühne Burgäschi (2022) und schließlich im November 2024 im österreichischen Murau. 2025 ist eine konzertante Aufführungsserie in Graz geplant und sicher werden weitere folgen.
Roxy und ihr Wunderteam ist die deutsche Fassung der im Jahr zuvor in Budapest uraufgeführten Operette 3:1 a szerelem javárada. Da man in Österreich 1937 besser Fuss- als Wasserball spielte, wurde kurzerhand die Sportart gewechselt. So entstand die erste Fußball-Operette der Geschichte. Bei der Uraufführung dieser Vaudeville-Operette im Theater an der Wien war die österreichischen Fußball-Nationalmannschaft anwesend. Kurz darauf musste Paul Abraham Wien und auch Budapest verlassen und emigrierte über Paris und Kuba nach New York. Die Operette wurde mit Hans Holt und Rosy Barsony und Fußballspielern, wie beispielsweise Matthias Sindelar, dem Kapitän des legendären österreichischen Wunderteams der 1930er-Jahre, verfilmt.
Da der Inhalt in diesem Fall sicher auch vielen Operettenkennern nicht geläufig ist, folgt eine kurze Zusammenfassung: Die ungarische Fußball-Nationalmannschaft hat in London gerade über das englische Nationalteam gesiegt. Auf der Flucht vor ihrem Bräutigam Bobby steht plötzlich die Engländerin Roxy im Hotelzimmer der Fußballer. Trotz Einspruch des Mannschaftskapitäns nehmen die Fußballer das Mädchen kurzerhand mit ins Trainingslager. In Ungarn angekommen, erfährt das Fußballteam, dass auch noch Schülerinnen eines Mädchenpensionats mit ihrer strengen Lehrerin im Landhaus untergebracht sind. Der Mannschaftskapitän ist über die weibliche Präsenz wenig begeistert, obwohl ihm die selbstbewusste Roxy durchaus gefällt. Bei einer gemeinsamen Feier der Fußballer mit den Schülerinnen erscheinen plötzlich Roxys Bräutigam Bobby und ihr Onkel Sam. Um sich aus der peinlichen Situation zu retten, verkündet Roxy ihre Verlobung mit dem soeben eintreffenden Verbandspräsidenten Baron Szatmary, der sich amüsiert auf das Spiel einlässt.
Nach den Ereignissen am Plattensee haben die nach Budapest zurückgekehrten Pensionatsschülerinnen Hausarrest. Roxy bleibt bei ihnen und teilt ihr Schicksal. Die Fußballer kommen einer nach dem anderen als Mädchen verkleidet ins Pensionat. Zwischen dem Mannschaftskapitän Gjurka und Roxy gibt es wieder Streit. So müssen die Mädchen das Rückspiel der ungarischen Mannschaft gegen die Engländer im Radio verfolgen. Aber als es zur Halbzeit 1:0 für England steht, reißen Roxy und die Mädchen aus, um ihre Jungs direkt im Stadion anzufeuern. Dank dieser tatkräftigen Unterstützung wendet sich das Spiel für die ungarische Mannschaft, aber auch für Roxy und Gjurka. Im allgemeinen Siegestaumel finden sie endlich zueinander.
Musikalisch bietet Paul Abraham mit diesem Werk allerfeinste Unterhaltung. Swing, opulente Filmmusiken, sowie ungarische und Wiener Operette vermischen sich hier zu einem umfangreichen akustischen Ohrenschmaus.
Carsten Kock als Conférencier (Foto: Henrik Matzen)
Das Ensemble des Schleswig-Holsteinischen Landestheaters ist an diesem Premierennachmittag (Sonntag um 16:00 Uhr ist eine ungewöhnliche aber auch sehr angenehme Uhrzeit) bestens aufgelegt und lässt keine Wünsche offen. Meines Erachtens sollte der NDR eine der Vorstellungen in seinem Programm übertragen, oder ein CD-Label eine Aufnahme dieser Produktion des Landestheaters veröffentlichen, denn die halbszenische Aufführung ist mit ihren gut eineinhalb Stunden Spieldauer (zzgl. Pause) von idealer Länge und dazu noch perfekt besetzt. Für die szenische Einrichtung, die in Kostümen von Jakov Sladojević aber ohne Bühnenbild gezeigt wird, zeichnet sich Maximilan Eisenacher aus. Zahlreiche Nebenrollen wurden gestrichen und das Geschehen wird erzählerisch durch einen Conférencier gestrafft. Dieser wird von einem Urgestein des norddeutschen Privatradios, Carsten Kock, gegeben. Eine ungewohnte Rolle für den ansonsten aus dem Bereich Politk bekannten Moderator des Senders R.SH. Mit Charme und sonorer Stimme führt er durchs Geschehen und im Verlauf der kommenden Aufführungen wird seine leichte Anspannung noch weichen. Urkomisch ist die Szene, in der er für Roxy und Ilka selbst zum Radio mutiert. Das gesamte Ensemble ist spielfreudig, meistert die szenischen Aufgaben mit einer großen Portion Humor, aber nimmt das Sujet ernst und agiert mit dem nötigen Respekt vor dem Werk. Das Ergebnis ist auch szenisch beste Unterhaltung ohne Abdriften zum Klamauk.
Christian Alexander Müller als Gjurka Karoly und Talya Lieberman als Roxy (Foto: Henrik Matzen)
Talya Lieberman als quirlige Roxy sticht neben den ebenfalls brillanten Herren Kai-Moritz von Blanckenburg als ihr Onkel Sam Cheswick und Christian Alexander Müller als Mannschaftskapitän Gjurka Karoly besonders hervor. Köstlich sind auch Philipp Franke als Tormann Jani Hatschek, Dritan Angoni als Géza Alpassy und Mikolaj Bońkowski als Arpad Balindt. Respekteinflößend gestaltet Itziar Lesaka die Direktorin des Mädchenpensionats und keck und von jugendlicher Frische geprägt, gibt Małgorzata Rocławska die Schülerin Ilka Pirnitzer. Da alle Solisten durch Mikroports unterstützt werden, können sie sich einerseits stets gut gegen das im Bühnenhintergrund platzierte und gar nicht leise Schleswig-Holsteinische Sinfonieorchester behaupten, aber auch viele Passagen subtiler und differenzierter gestalten, als wenn Sie ihre Opernstimmen stets voll aussingen müssten. Doppelte Freude beschert auch Generalmusikdirektor Harish Shankar am Pult. Zum einen sorgt er für stets spritzige Tempi, zum anderen ist es auch ein großer optischer Spaß, wie er teilweise beinahe tänzelnd seine Musiker durch den Abend führt. Der Chor des Schleswig-Holsteinischen Landestheaters, einstudiert von Avishay Shalom, trägt ebenfalls maßgeblich zum gelungenen Nachmittag bei.
Eine echte Mannschaftsleistung eben!
FLENSBURG/ Landestheater: DORNRÖSCHEN
Yi-Han Hsiao als Prinzessin Aurora und Chu-En Chiu als Prinz Désiré und Ensemble (Foto: Henrik Matzen)
FLENSBURG/ Schleswig Holsteinisches Landestheater: DORNRÖSCHEN
Premiere am 2. November 2024
Der überraschende Star des Abends dieser Premiere des neuesten Musiktheaterstücks von Choreograph Emil Wedervang Bruland ist das Schleswig-Holsteinische Sinfonieorchester unter der souveränen Leitung des katalanischen Dirigenten Sergi Roca Bru. Musikalisch wird alles aufgefahren, was Tschaikowskis durch lyrische Melodik und reiche Harmonien geprägte Partitur benötigt, um zu begeistern. Von melodischer Schönheit über farbenprächtige Opulenz bis hin zu den charakteristischen Tanzsätzen dieses 1890 im St. Petersburger Mariinski-Theater uraufgeführten Meisterwerkes lotet der 1. Kapellmeister des Schleswig-Holsteinischen Landestheaters jede Nuance aus und die Musiker im Graben folgen ihm konzentriert.
Am Landestheater ist das Stück auf 130 Minuten inklusive Pause gekürzt worden und natürlich kann das recht kleine Tanztheater-Ensemble der akustischen Opulenz nicht durch eine große Menge an Menschen auf der Bühne entgegentreten. Stattdessen setzt Bruland auf eine eigene Interpretation des klassischen Märchenstoffes, der im Wesentlichen dennoch der bekannten Vorlage folgt. Musikalisch sind dabei auch die bekanntesten der unzähligen Variationen und Charaktertänze erhalten geblieben, aber wurden in die Handlung integriert und die Darstellung den Protagonisten auf den Leib choreografiert. Bruland und die Dramaturgin Susanne von Tobien erzählen die Geschichte als Suche nach selbstbestimmter Freiheit und Identität, aber auch als Finden der eigenen Kraft und Liebe, verrät ein Blick in den Programmzettel. Dabei gibt es schon beim Tauffest so viele Details zu sehen, dass man gar nicht alle Aktionen auf einmal wahrnehmen kann und sich idealerweise ein zweites Mal die Zeit nimmt, eine der Aufführungen zu besuchen. Wie dem Baby Aurora im Kinderwagen die Windel gewechselt wird und angewidert von einem Gast zum nächsten weitergereicht wird, sorgt nicht nur für Lacher im Publikum sondern stellt auch die unmittelbare Verbindung vom phantastischen Märchen mit dem heutigen Alltag der Menschen her. Statt der traditionellen Verletzung an der Spindel, sticht Aurora sich später an einer Spritze, mit der Carabosse sie überwältigt und schließlich in eine Art Trance versetzt. Projektionen in einer Art Bilderrahmen auf der hinteren Begrenzung der Szenenfläche visualisieren dabei die durch die Spritze hervorgerufene Blutung (oder den Eintritt der Droge in den Blutkreislauf der Prinzessin?) und die psychedelische Wirkung der verabreichten Substanz. In dieser von Carabosse gelenkten Traumsequenz reflektiert Aurora Gewesenes, begreift Geschehenes und durchlebt ihre Sehnsüchte. Schließlich begreift die Protagonistin, dass nur sie selbst sich befreien kann und entreisst ihrem Peiniger die Spritze, um ihn schließlich damit zu eliminieren und doch noch mit Prinz Desiré das gemeinsame Glück zu finden. Bruland gelingt es, eine ästhetische eigene Körpersprache für seine Company zu kreieren, aber begegnet auch der originalen, für eine Besetzung von 155 Tänzerinnen und Tänzern geschaffenen Choreografie von Marius Petipa durch vereinzelten Zitate mit Respekt. Herausgekommen ist eine wirklich gelungene Symbiose aus Tradition und modernem Tanztheater, welches am Landestheater ganz ohne Tutus und Spitzenschuhe auskommt. Die farbenfrohen zeitgenössischen Kostüme und die Bühne, die im Wesentlichen an filigrane Scherenschnittmuster erinnert, stammen von Stephan Anton Testi.
Yun-Cheng Lin als Carabosse manipuliert Prinzessin Aurora (Foto: Henrik Matzen)
Tänzerisch glänzen in der Premiere vor allem die wandlungsfähige Yi-Han Hsiao als Prinzessin Aurora und Yun-Cheng Lin als deutlich aufgewerteter und teils sadistisch wirkender Bösewicht Carabosse. Chu-En Chiu vermag durch seine sensible Gestaltung dem Prinzen Désiré Profil zu geben. Risa Tero gibt als elegante Fliederfee die Gegenspielerin Carabosses. Das Gespann der guten Feen vervollständigen der charismatische Ben Silas Beppler als Blaue Fee, die bezaubernde Perla Gallo als Rote Fee und William Gustavo De Barros mit seiner schelmischen Art als Grüne Fee. Die drei letztgenannten werden im Dezember als Carabosse, Aurora und Désiré zu sehen sein, was erneut zu spannenden Momenten und gänzlich anderen Eindrücken auf der Bühne führen dürfte. Komplettiert wird das frisch und präzise tanzende, mit reichlich Ausdruckskraft agierende Flensburger Ensemble durch Gijs Machiel Stenger als Böse Fee, Laura Elizalde Garcia als Bösere Fee, Meng-Ting Wu als Böseste Fee und Lou Thabart als König, sowie Carolina Martins de Oliveira als Königin.
Am Ende gibt es tosenden Applaus und Standing Ovations für alle Beteiligten.
FLENSBURG/ Landestheater: PETER GRIMES
FLENSBURG/ Schleswig-Holsteinisches Landestheater
PETER GRIMES, Oper von Benjamin Britten
16. Juni 2024
Peter Grimes von Benjamin Britten ist eine Oper von tiefgründiger emotionaler und psychologischer Komplexität. Sie verbindet meisterhaft musikalische Innovationen mit einer packenden, sozialkritischen Erzählung und hat sich so weltweit einen festen Platz im Repertoire der Opernhäuser erobert. Die Themen der Isolation, Schuld und gesellschaftlichen Ausgrenzung machen sie zu einem zeitlosen Werk, das immer wieder neu entdeckt werden kann.
Die Dorfgesellschaft mit Captain Balstrode (Foto: A.T. Schaefer)
Die scheidende Flensburger Operndirektorin Kornelia Repschläger platziert in der gerichtlichen Voruntersuchung des Prologs Solisten und Chorsänger auf den seitlichen Parkettplätzen. Das Publikum wird somit unmittelbar in die Handlung einbezogen. Während der Richter oben im ersten Rang agiert, steht der wegen Mordes verdächtige Peter Grimes alleine auf der Bühne. Im weiteren Verlauf dominieren oft Projektionen der hier in Flensburg tatsächlich ganz nahen und nicht selten unberechenbaren Nordsee die Szene (Bühne: Angelika Höckner, Kostüme: Ralf Christmann). Das Meer spielt eine zentrale Rolle in der Oper und fungiert sowohl als physische Realität als auch als Metapher für das Schicksal und die innere Zerrissenheit des Protagonisten. Die Natur wird zu einem Spiegel der menschlichen Emotionen und Konflikte. Einzig die Micky Maus-Masken, die die Bewohner beim Dorffest tragen, hätten für meinen Geschmack nicht unbedingt sein müssen, ansonsten werden drei Stunden äußerst ästhetisches und mitreißendes Musiktheater präsentiert. Peter Grimes ist Opfer und Täter zugleich und wird in seiner durch Ausgrenzung und Misstrauen fussenden Zerrissenheit schließlich dazu getrieben, weit aufs Meer hinaus zu fahren und sich mitsamt seinem Boot zu versenken. Das Dorfleben geht weiter, als wäre nichts gewesen.
Eine besonders schöne und psychologisch vertiefende Idee ist es, sowohl Peter Grimes als auch seinen Lehrjungen während der musikalischen Zwischenspiele in der Choreographie von Nicola Mascia tänzerisch (ausdrucksstark Chu-En Chiu als Grimes und ebenso faszinierend Ben Silas Beppler als Junge) auftreten zu lassen.
Grimes und sein Lehrjunge tanzend in Szene gesetzt (Foto: Henrik Matzen)
Britten verwendet in diesem Werk traditionelle Opernstrukturen, integriert jedoch auch innovative Elemente, die den erzählerischen und emotionalen Gehalt der Oper verstärken. Die Mischung aus Rezitativen, Arien und Chorpassagen ist sorgfältig ausgewogen und trägt zur dramaturgischen Intensität bei. Dem Schleswig-Holsteinischen Sinfonieorchester unter der Leitung von Sergi Roca Bru und dem Opern- und Extrachor (Einstudierung: Avishay Shalom) ist der ausgewogene musikalische Hochgenuss zu verdanken, der durch eine exzellente Sängerriege vervollkommnet wird.
David Esteban lotet alle Nuancen der Titelpartie aus (Foto: A.T. Schaefer)
David Esteban kann der dramatischen Partie des Peter Grimes im kleinen Flensburger Theater erstaunlich viele innige und schönstimmige Momente abgewinnen und versteht es hervorragend, die Spannung zwischen dem Individuum und der Gesellschaft, sowie die Konsequenzen sozialer Isolation und Vorurteile zu verkörpern. Shelley Jackson durchlebt den Charakter der liebenden und mitleidenden Gefährtin des Außenseiters und vermag mit ihrem voluminösen und differenziert eingesetzten Sopran zu überzeugen und die Zuschauer zutiefst zu berühren. Philipp Franke gestaltet Captain Balstrode mit kraftvollem und eindringlichem Bariton und verfügt über die nötige Bühnenpräsenz, um den Titelhelden schließlich überzeugend in den Selbstmord zu treiben. Malgorzata Roclawska gibt als 2. Niece mit ihrem lyrischen Sopran stimmlich bestens disponiert eine darstellerisch überzeugende Hauptattraktion des Gasthauses von ihrer angeblichen Tante Auntie (Evelyn Krahe) und agiert stets im Einklang mit 1. Niece Anna Avdalyan als verführerisches Duo.
Als etwas skurill erscheinender Fischer und Methodist Bob Boles glänzt Robin Neck, als stets wachsame Mrs. Sedley überzeugt Sophia Maenno nicht zuletzt dank ihrer komödiantischen Qualitäten.
Die weiteren, keine Wünsche offen lassenden Solisten sind Kai-Moritz von Blanckenburg als Apotheker Ned Keene, Timo Hannig als Mr. Swallow, Dritan Angoni als Pfarrer Horace Adams, und Ulrich Burdack als der Fuhrmann und Dorfpolizist Hobson. In der stummen Rolle des Jungen agiert Max Carlos Thomsen und Dr. Crabbe wird von Nils Düster dargestellt.
Die überzeugende Leistung aller Mitwirkenden – in einer Szene stehen sogar Mitarbeiter des Einlasspersonals mit auf der Bühne und es gesellen sich im Publikum platzierte Statisten mit hinzu – reißt das nicht ganz so zahlreich erschienene Publikum an diesem Sonntagnachmittag zu langem und tosendem Applaus hin.
FLENSBURG/ Landestheater: CABARET
FLENSBURG/ Schleswig-Holsteinisches Landestheater:
CABARET von Fred Ebb und John Kander
24. April 2024
Großartige Unterhaltung trifft auf tiefsinnigen und brandaktuellen Inhalt: so einfach ließe sich der Besuch im Flensburger Stadttheater zusammenfassen.
Der Inhalt dieses 1966 uraufgeführten Werkes nach dem Stück Ich bin eine Kamera von John van Druten und Erzählungen von Christopher Isherwood gehört fast schon zur Allgemeinbildung: Der junge amerikanische Schriftsteller Cliff Bradshaw reist in den frühen 1930er Jahren nach Berlin, um dort an einem Roman zu arbeiten. Durch eine Empfehlung seines Mitreisenden Ernst Ludwig landet er in der Pension von Fräulein Schneider. Durch Ludwig lernt er auch den berühmt-berüchtigten Kit Kat Club kennen, in dem er auf die englische Sängerin Sally Bowles trifft. Nachdem diese ihren Job verliert, findet sie Unterschlupf bei Cliff und aus den beiden wird ein Paar. Auch für zwei andere Bewohner der Pension kehrt das Glück ein. Herr Schultz erobert das Herz von Fräulein Schneider. Doch spätestens bei der Verlobungsfeier wird deutlich, dass Schultz Jude ist und Ludwig ein Nationalsozialist. Bei der Verlobten kommen Zweifel auf und sie möchte Abstand von der geplanten Hochzeit nehmen. Cliff plant, Deutschland zu verlassen, während Sally weiter von ihrer Karriere in Berlin träumt. Als sie sich entscheidet, das gemeinsame Kind abzutreiben, hält ihn nichts mehr in der Stadt. Die Zurückgebliebenen erwartet unterdessen eine ungewisse Zukunft.
Im Kit Kat Club geht es hoch her (Foto: Thore Nilsson)
Für das Buch zeichnet sich Joe Masteroff verantwortlich, die Gesangstexte stammen von Fred Ebb. Die Musik wurde von John Kander komponiert und wird am Schleswig-Holsteinischen Landestheater unter der musikalischen Leitung von Fridtjof Bundel in der reduzierten Orchesterfassung von Chris Walker gespielt. Ragtime und Jazz klingen in diesem revueartigen Stück durch und auch die beiden erst später für die Verfilmung komponierten Stücke Maybe this Time, Mein Herr und Money, Money fehlen in dieser Inszenierung von Milena Paulovics nicht. Die Regisseurin stellt dem hervorragend agierenden und achtbar singenden Schauspielensemble des Landestheaters drei hervorragend tanzende und vokal bestens aufgelegte Musicaldarstellerinnen zur Seite. Hannah Lucie Schlewitt (Lulu), Lavinia-Romana Reinke (Brünnhilde) und Salome Wälti (Rosie) bringen den nötigen Schwung und eine Prise Erotik in den sonst recht nüchtern gestalteten Kit Kat Club. Dieser wird lediglich durch eine mit der Kit Kat Band besetzten Bühne auf der Bühne, einer Discokugel und einem silbernen Glitzervorhang angedeutet. Das Bühnenportal ist seitlich mit silberfarbenem Art Deco Muster verziert. Auf jeder Seite stehen darüber hinaus je ein Stuhl und ein Tisch mit Telefon zum analogen Tindern. Im Bühnenbild von Pascale Arndtz werden darüber hinaus durch einfache aber mit liebevollen Details ausgestattete Elemente ein Zugabteil, der Obst- und Gemüseladen von Herrn Schultz und der Flur der Pension von Fräulein Schneider visualisiert. Im Wesentlichen konzentriert sich Paulovics in ihrer schlüssigen Interpretation auf die Zeichnung der einzelnen Charaktere und deren Beziehungen zueinander. So ist es auffällig, dass Sally Bowles in Dialogen mit Clifford Bradshaw mehrmals scheinbar unbeteiligt ins Publikum schaut, anstatt ihm in die Augen zu sehen. Dieses Wechselspiel aus bewegenden schauspielerischen Momenten und stimmungsvollen Showeinlagen (Choreografie: Simona Semeraro) macht die Inszenierung sehr sehenswert.
Sally Bowles und Clifford Bradshaw (Foto: Thore Nilsson)
Dabei begeistern insbesondere die stimmlich stets präsente Neele Frederike Maak als verletzliche und androgyn erscheinende Nachtklub-Ikone Sally Bowles, Tom Wild als charismatischer und doch schmieriger Conférencier und Gregor Imkamp als scheinbar versehentlich in den falschen Film geratener und naive Schriftsteller Clifford Bradshaw. Das zwischen Moral und eigenen Bedürfnissen hin- und hergerissene und schon deutlich in die Jahre gekommene Fräulein Schneider wird überzeugend von Karin Winkler gegeben und im Zusammenspiel mit dem liebenswerten und gutgläubigen Herrn Schultz (René Rollin) ergeben sich sehr komische, aber auch äußerst tragische Momente. Felix Ströbel gibt glaubhaft den linientreuen Ernst Ludwig, Friederike Pasch verkörpert Fräulein Kost und in gleich mehreren kleineren Rollen tragen Dennis Habermehl und Tomás Ignacio Heise zum rundum gelungenen Abend bei.
Das Publikum dankt für diese ausverkaufte Repertoirevorstellung mit langanhaltendem Applaus und stehenden Ovationen.
FLENSBURG/ Landestheater: DER FEUERVOGEL / FANTAISIE SYMPHONIQUE
Vergangene Spielzeit bekam ich von einem Freund im etwa 900 Kilometer entfernten Augsburg den Hinweis, dass es bei uns in Flensburg eine sehr sehenswerte Ballettaufführung gäbe. Terminlich hatte es damals bei mir nicht gepasst, aber zumindest das tänzerische Highlight dieser Saison wollte ich mir nicht entgehen lassen.
Das Ballettensemble des Schleswig-Holsteinischen Landestheaters in „Fantaisie Symphonique“ (Foto: Henrik Matzen)
Im ersten Teil des choreografischen Doppelabends übersetzt Emil Wedervang Bruland Kurt Weills 2. Sinfonie („Fantaisie Symphonique“) in eine zeitgenössische Choreografie. Weills bedeutendstes, viel zu selten gespieltes Orchesterwerk wird von Sarkasmus, Wut, Angst, schwermütiger Lyrik und auch Traurigkeit geprägt, die klar und brillant in der Partitur zum Ausdruck kommen. Bruland schafft ein etwa halbstündiges abstraktes Tanztheater für sein kleines aber feines Ballettensemble, das unglaublich gut mit der Musik harmoniert und in der jede Szene harmonisch in die nächste übergeht. Im ersten Satz dienen den elf Tänzern zwei Tische als Bühnenbild und Requisiten. Diese werden teilweise aktiv ins Geschehen eingebunden und wecken so auch schon mal kurz Assoziationen an einen OP-Tisch, auf dem zwei Menschen untersucht und dann weggekippt werden. Ob dies eine persönliche Assoziation des Rezensenten mit dem heutigen Umgang von Lebewesen ist, oder so gedacht war, bleibt ein Geheimnis. Im zweiten Satz hatte ich in einer Szene Gedanken ans ‚in sich gefangen sein und nicht vorankommen können“ und in einer anderen Sequenz an ein Strategiespiel, in dem Menschen wie Schachfiguren aufgestellt (und somit also manipuliert) werden. Dabei war die Darbietung auf der Bühne äusserst ansprechend und ästhetisch. Im dritten und letzten Satz schließlich meinte ich etwas wie Gottesanbetung und Ekstase wahrgenommen zu haben, was ich für mich als Happy End deute. Die Kostüme von Ausstatter Stephan Anton Testi bestehen für die gesamte Company aus kurzen schwarzen Hosen und schwarzen Shirts mit einem weißen Sakko, welches für jeden Tänzer und jede Tänzerin individuell durch mehr oder weniger starke schwarze Elemente bemalt ist.
Szene aus Emil Wedervang Brulands „Der Feuervogel“ in Flensburg – alternierende Besetzung (Foto: Henrik Matzen)
Nach der Pause kommt schließlich Igor Strawinskis „Der Feuervogel“ in der reduzierten Orchesterfassung von Henning Brauel zur Aufführung. Dieses Werk habe ich zuletzt vor dreißig Jahren im St. Petersburger Mariinski Theater gesehen und entsprechend neugierig war ich auf die Flensburger Version. Eine direkte Gegenüberstellung wäre weniger sinnvoll als Äpfel mit Birnen vergleichen zu wollen, aber um es auf den Punkt zu bringen: Bruland ist eine sehr konzentrierte und mitreißende Interpretation des Werks gelungen, die seine aus nur elf Tänzern bestehende Company tänzerisch brilliant umsetzt. Jeder Tanzschritt und jede Bewegung trägt zur Erzählung bei und verleiht dem Stück eine zusätzliche Tiefe.
Der Feuervogel, ein prächtiges und rätselhaftes Wesen, ist fester Bestandteil russischer Volksmärchen und wurde zum künstlerischen Symbol des Fin de Siècle. Strawinskis berühmte spätromantische Version dieser Geschichte beeinflusste die Ballettwelt des 20. Jahrhunderts nachhaltig.
Das Bühnenbild (ebenfalls von Testi) besteht aus bemalten Stoffstreifen, die die Bühne umschließen. Zusätzlich gibt es einen kleinen Ring mit weiteren Stoffstreifen, die einen Käfig andeuten und aus dem die schöne Zarewna entsteigt. Die Kostüme des Feuervogels und seinem Gefolge sind in klassischem Rot gehalten, während Kastschei und die Dämonen schwarz gekleidet und weiß maskiert sind.
Perla Gallo vor dem Auftritt in ihrer Garderobe. Sie fasziniert in der Titelrolle (Foto: Instagram/privat)
Perla Gallo beeindruckt in der Titelrolle. Mit ihren anmutigen Bewegungen bringt sie die Magie und die Kraft des Feuervogels auf eindrucksvolle Weise zum Ausdruck. Ihr tänzerisches Können und ihre Bühnenpräsenz machen sie zur perfekten Besetzung für diese Rolle, in der sie sowohl solistisch als auch im fürsorglichen Zusammenspiel mit dem stattlichen Yun-Cheng Lin als Iwan Zarewitsch und im Konflikt mit Kastschei (dämonisch und furchteinflößend von Ben Silas Beppler interpretiert) brilliert. Zart und bezaubernd gestaltet Meng-Ting Wu die schöne Zarewna. Alternierend als Gefolge des Feuervogels und als Dämonen sind mit starker Bühnenpräsenz Anna Schumacher, Yi-Han Hsiao, Riho Otsu, Risa Tero, Chu-En Chiu, William Gustavo Barros, Matteo Andrioli und der Gast Emanuele Senese im Einsatz.
Das Schleswig-Holsteinische Sinfonieorchester trägt unter der Leitung von Sergi Roca Bru durch seine konzentrierte Begleitung maßgeblich zum Gesamteindruck des Abends bei und entfaltet insbesondere im Feuervogel einen mystischen Klangteppich, wohingegen es in Weills Sinfonie auch mit schmissigen Rythmen aufwartet.
Standing Ovations im ausverkauften Haus dieser Repertoirevorstellung.
FLENSBURG/ Landestheater: A STREETCAR NAMED DESIRE. Premiere
Ob der eher mäßige Vorverkauf dieser Premiere mit dem in der Region äußerst dürftigen öffentlichen Personennahverkehr zusammenhängt, lässt sich nicht genau sagen. Vermutlich ist es weniger der fehlende Bezug der Flensburger zur Straßenbahn (Streetcar), als die Skepsis gegenüber dem der breiten Masse eher unbekannten Komponisten André Previn.
Previn hat in seiner Partitur die Erfahrungen aus seinen eigenen Musicals und Soundtracks mit der spätromantischen und klassisch-modernen Formensprache verknüpft. Besonders emphatisch hat er hierbei das traumatisch gebrochene Bewusstsein der Hauptfigur Blanche DuBois herausgearbeitet.
Die Sopranistin Amelie Müller ist immer ein Garant für einen gelungenen Opernabend. In einem Interview mit der örtlichen Presse wurde sie kürzlich sogar schon als Opernstar gehandelt. Dies sagt allerdings mehr über die Qualität der Redaktion aus, als über den Bekanntheitsgrad der Sängerin. Das Potential zum Star hat sie ohne Zweifel und mit der Gestaltung der feinsinnigen, am Leben gescheiterten Südstaaten-Lady Blanche duBois am Schleswig-Holsteinischen Landestheater legt sie erneut eine gesangliche und darstellerische Meisterleistung ab. Es vergeht kaum eine Minute, in der sie in diesem Stück nicht auf der Bühne steht und so erleben wir an diesem Abend Müllers modulationsfähigen Sopran in einer schier unglaublichen Bandbreite von emotionalen Eruptionen bis hin zu verklärter seelischer Entrücktheit. Schauspielerisch findet die Sopranistin ebenfalls stets die richtigen Mittel für jede Situation.
Amelie Müller lässt als Blanche DuBois keine Wünsche offen – (c) Matzen
Die Schwester von Blanche, bei der diese Zuflucht vor ihrer eigenen Vergangenheit sucht, gestaltet die Sopranistin Malgorzata Roclawska. Dem devoten Charakter der Rolle entsprechend, gibt sie die Unterdrückte, die sich zwischen ihrer Schwester und ihrem Mann aufreibt und vermag dabei stimmlich stets den passenden Ton zu treffen.
Amelie Müller und Małgorzata Rocławska als ungleiche Schwestern – (c) Matzen
Ihren vulgären und gewalttätigen Gatten Stanley Kowalski spielt der gesundheitlich angeschlagene Bariton Philipp Franke. Seine Stimme verleiht dem an diesem Abend stumm agierenden Künstler der kurzfristig aus Wien angereiste Michael Mrosek, der diese Rolle bereits 2016 in Koblenz gesungen hat. Vokal bringt er kraftvoll die Brutalität und das Machogehabe des primitiven Arbeiters über die Rampe und lässt auch ab und an eine ordentliche Portion Verachtung mitschwingen. Leider wurde es versäumt, den Namen des Einspringers auf der im Theater ausgehängten Abendbesetzung zu ergänzen, so dass einzig die von der Operndirektorin vor der Vorstellung erfolgte Ansage Hinweise auf den Namen dieses exzellenten Sängers gibt.
Matthew Peña gestaltet Harold Mitchell, einen Pokerfreund von Stanley, anfangs rollengemäß zurückhaltend und blass. Er steigert sich im Laufe des Abends zu expressiven Ausbrüchen, in denen sein Charaktertenor eindringlich zur Geltung kommt und auch seine darstellerischen Qualitäten deutlich werden.
Von den kleineren Partien sei, nicht zuletzt wegen der maskenbildnerischen Meisterleistung, die mexikanische Blumenverkäuferin von Alma Samimi erwähnt. Sie verleiht dieser Figur auch vokal Charakter und verfügt dabei über eine bezwingende Bühnenpräsenz. Eva Schneidereit gestaltet die Nachbarin Eunice Hubbell mit Profil. Xiaoke Hu als Steve Hubell und Dritan Angoni als junger Kassierer komplettieren das Ensemble.
Die Sänger verstehen es in der Inszenierung von Cornelia Repschläger ausgezeichnet, den Flensburger Frühling mit Temperaturen um den Gefrierpunkt und leichtem Schneefall in ein von schwüler Hitze und emotionalen Spannungen geprägtes New Orleans der 1940’er Jahre zu verwandeln. Die Regisseurin konzentriert sich eindrucksvoll auf die emotionalen Beziehungen der Protagonisten untereinander. Bis ins kleinste Detail zeichnet sie insbesondere den Charakter der Blanche, arbeitet aber auch die vielschichtigen Charaktere der anderen Figuren heraus. Diese sind einerseits Sinnbild für bestimmte Stereotypen, andererseits allesamt Individuen mit ihren ganz persönlichen Geschichten und Eigenheiten.
Die gesamte Oper spielt in der Zweizimmerwohnung von Stella und Stanley. Streng genommen bekommt das Publikum sogar nur eines dieser Zimmer zu sehen, denn das zweite ist lediglich durch eine Tür angedeutet. Die Wände bestehen in Angelika Höckners Bühnenbild aus lichtdurchlässigen Wellkunststoff-Elementen. Sie schaffen einerseits eine emotional unterkühlte Atmosphäre und schirmen gleichzeitig die sich ereignenden Dramen vor den Blicken der Außenwelt ab. Gleichsam wirkt das ganze Konstrukt aufgrund seiner Lumineszenz fragil, wie das Geflecht menschlicher Beziehungen an sich. Die werksgerechten, teils prächtigen Kostüme stammen von Ralf Christmann.
Die Szene, in der Stanley seine Schwägerin Blanche vergewaltigt, ist choreografiert (Nicola Mascia) und verliert dadurch ihre Brutalität. Dass Blanche unmittelbar vor diesem Akt durch die mit Nacktheit andeutender Unterwäsche bekleidete Stella ausgetauscht wird, mag eine wesentliche Aussage im Sinne Freuds sein, dient bei der ersten unbedarften Auseinandersetzung mit diesem Werk allerdings nicht unbedingt dem Verständnis. Gegen Ende der Oper wird eine Leuchtreklame mit der Aufschrift „DESIRED“ heruntergelassen, hinter der sich Blanche positioniert. Stellt Blanche das Objekt der Begierde da? Geht es in diesem Stück um ihre Wünsche und Sehnsüchte? Oder um (sich oft widersprechende) Wünsche und Sehnsüchte im Allgemeinen? Diese Fragen dürfen die Zuschauer mit auf den Weg nach Hause nehmen und ihre persönlichen Antworten darauf finden.
Ingo Martin Stadtmüller führt sein Schleswig-Holsteinisches Sinfonieorchester sicher durch die emotionsgeladenen 2 3/4 Stunden und untermalt das Bühnengeschehen auf bestmögliche Weise. Er versteht sich dabei als wichtiger Partner der Sänger, die vokal stets vom Orchester getragen werden. Der Flensburger Generalmusikdirektor lässt Prévins Musik erstrahlen und in den richtigen Momenten beängstigend und bedrohlich wirken. Fragmente von Jazzmusik mit aufheulenden Klängen von Saxophon, Trompete und Klarinette charakterisieren die Südstaaten-Atmosphäre akustisch.
FLENSBURG/Landestheater: TOSCA (Premiere)
Der eiserne Vorhang hebt sich langsam nachdem der Dirigent bereits das Pult im Orchestergraben betreten hat. Der Blick auf einen mit weißem Marmor ausgekleideten Raum wird freigegeben, Eine weiße, nicht ganz korrekt bekleidete Madonna steht hinten links im Eck. Diese wenigen bühnenbildnerischen Elemente (Bühne und Kostüme: Angelika Höckner) bleiben uns den gesamten Abend über als verbindendes Element erhalten, wobei die Madonna im ersten Akt mit einem Kruzifix bestückt ist, im zweiten Akt mit einem Schwert und im dritten schließlich mit einem goldenen Herzen. Für die erste Szene darf natürlich eine Staffelei nicht fehlen, der Palazzo Farnese wird später im selben Rahmen durch Büromöbel und Laptops zur Geheimdienstzentrale ausgestattet. Was im ersten Moment nach einer weitgehend modernisierten naturalistischen Inszenierung klingt, ist aber weit mehr. So beginnt in Kornelia Repschlägers Regie das Stück mit einem jungen Mädchen, welches mit dem Rücken zum Publikum steht. Sie atmet laut und panisch, bevor sie die Bühne rennend verlässt und schließlich die ersten Takte von Puccinis Melodramma in drei Akten erklingen. Im weiteren Verlauf des Abends erzählt Repschläger werktreu die bekannte Geschichte, versetzt die Zeit der Handlung, wie man den Kostümen unschwer ansehen kann, dabei aber in die heutige Zeit. So schafft sie einen deutlichen Bezug zu aktuellen Ereignissen rund um Machtmissbrauch und zurzeit aktive Despoten jeglicher Couleur, die selbstverständlich auch die Kirchen in ihre Machenschaften mit einbeziehen. Im „Te Deum“ tritt der Chor grau gewandet mit von Strumpfmasken überzogenen Gesichtern und Zombie-haftem Habitus auf, was wiederum die neben der rein erzählerischen eine weitere Dimension zum Ausdruck bringt. Tosca erscheint im weißen Gewand und wird von diesen Gestalten nach Scarpias Phantasien beschmutzt und missbraucht. Zum Ende der Oper hin löst sich die Frage nach den seltsamen Erscheinungen endlich auf: Das von Ängsten geplagte Mädchen aus dem ersten Akt ist der Hirte (eigentlich ja ein Junge), der zu Beginn des dritten Akts seinen regulären Auftritt hat. Es handelt sich bei ihm letztendlich um ein Alter Ego von Floria Tosca, die selbst als Hirtenmädchen aufwuchs, bevor sie von Benediktinerinnen aufgenommen und zur Sängerin ausgebildet wurde. In dem Moment als Tosca laut Partitur im Finale schließlich von der Engelsburg springen sollte, wird sie in Repschlägers Produktion vom Hirtenmädchen erschossen und beide Körper fallen, durch diesen (lautlosen) Schuss erlöst, zu Boden. Ihr Albtraum und die Angstzustände enden hier. Da Kornelia Repschläger diesen Ansatz stringent das ganze Stück hindurch immer wieder, aber keinesfalls penetrant anklingen lässt, schafft sie neben der spannungsgeladenen und detailliert inszenierten äußeren Handlung einen psychologisch tiefergehenden mit der Handlung einhergehenden roten Faden zum Thema Angst. Sie entstaubt auf diese Wiese Puccinis Meisterwerk, aber entwürdigt es nicht. Das Flensburger Premierenpublikum nimmt diese für hiesige Verhältnisse sehr moderne Interpretation begeistert an und dankt allen Beteiligten schlußendlich mit minutenlangen stehenden Ovationen für den gelungenen Opernabend.
Cavaradossi und Angelotti vor dem Bildnis der Madonna in der Kirche San Andrea della Valle (c) A.T. Schäfer
Auch von musikalischer Seite gibt es nur Positives zu berichten und es kommt uns viel Schönes zu Ohren. Für die drei stimmgewichtigen Hauptpartien wurden Gäste engagiert. Shelley Jackson sang die Tosca zuvor schon an der Oper Malmö und ist auch in Flensburg stimmlich bestens aufgelegt. Ihr warmer und in keinem Moment angestrengt klingender Sopran erinnert mich ein wenig an Kiri Te Kanawa. Selbst in dramatischen Ausbrüchen neigt ihre Stimme nicht zu Schärfen und bei aller vokaler Schönheit vermag die junge Amerikanerin es stets, das Orchester zu überstrahlen und nicht dagegen anzusingen. Der italo-ecuadorianische Tenor David Esteban hat es sprachlich wohl etwas leichter, als die weibliche Titelheldin. Stimmlich wird er der Rolle des Mario Cavaradossi auf der kleinen Bühne rundum gerecht und kann sich auch gegen die starke Bühnenpräsenz der weiblichen Protagonistin gut behaupten. Sein Kostüm erinnert mehr an einen Anstreicher als an einen Kunstmaler. Als Bilderbuch-Bösewicht brilliert der bulgarische Bariton Krum Galabov. Seine rauchig-rauhe Stimme unterstreicht die Brutalität, die in der Rolle des Scarpia steckt. Darstellerisch nimmt man ihm den sadistischen und hinterlistigen Polizeichef in jedem Moment ab, wobei er immer eher nobler Intrigant als grobschlächtiger Schurke bleibt.
Voller Energie und mit stimmlicher Präsenz durchlebt Tosca (Shelley Jackson) ihren Albtraum im als Geheimdienstzentrale fungierenden Palazzo Farnese (c) A.T. Schäfer
Neben diesem perfekt harmonierenden Trio fallen die mit Ensemblemitgliedern besetzten Rollen nicht ab und perfektionieren somit den harmonischen Gesamteindruck. Timo Hannig gibt den Cesare Angelotti, Allround-Talent Kai-Moritz von Blanckenburg begeistert als Mesner. Dritan Angoni gestaltet den Spoletta und die beiden Mitglieder des Opernchores Karol Malinowski (Sciarrone) und Dmitri Metkin (Schließer) komplettieren das Ensemble. Glafira Kaplun verzaubert in der Rolle des Hirten mit engelsgleicher Stimme.
GMD Ingo Martin Stadtmüller versteht es von der ersten Minute an vorzüglich, das Schleswig-Holsteinische Sinfonieorchester im Zaum zu halten und das kleine Auditorium des Flensburger Stadttheaters nicht mit purer Lautstärke zu überfrachten. Dabei gelingen ihm viele dramatische und auch wunderschöne, schwelgerische Momente ohne je ins Kitschige abzugleiten. Eine wichtige Rolle nehmen natürlich auch der Opern- und Extrachor des Schleswig-Holsteinischen Landestheaters und die Mitglieder des Kinderchores der Lornsenschule Schleswig ein, die sich unter der Leitung des neuen Chordirektors Avishay Shalom gut disponiert in bester stimmlicher Verfassung präsentieren.
Diese Saisonpremiere ist ein Beweis für die künstlerische Schlagkraft dieser nördlichsten Bühne im deutschsprachigen Raum und belegt, dass das Leitungsteam die in Flensburg beheimatete Musiktheatersparte des Schleswig-Holsteinischen Landestheaters mit durchdachten Konzepten und guter Sängerauswahl auf ein beachtliches Niveau gebracht hat. Unter den jubelnden Premierengästen fanden sich auch zahlreiche jüngere Menschen, darunter einige Kinder, die sich genau so für diesen Bühnenklassiker begeistern konnten, wie das ältere Stammpublikum.
SCHLESWIG / Schleswig-Holsteinisches Landestheater: FISCHBRÖTCHENBLUES
Entgegen der derzeitigen allgemeinen Zurückhaltung beim Besuch von Veranstaltungen war das seit 2012 als Interimsspielstätte genutzte dänische Kulturzentrum Slesvighus bis auf den letzten Platz ausverkauft. 300 Zuschauer klatschten und sangen mit und spendeten am Ende unter Getrampel und mit Standing Ovations langanhaltenden Beifall. Bemerkenswert, denn es handelte sich um eine Repertoirevorstellung des Mitte Februar uraufgeführten „Heimatabends mit viel Musik“ von Peter Schanz und nicht etwa um eine Premiere.
Das unterhaltsame Stück handelt vom Für und Wider des Tourismus und nimmt dabei auf herrliche Weise augenzwinkernd zahlreiche norddeutsche Eigenheiten auf die Schippe. Ohne Touristen geht in der Region nichts, aber zu viele Touristen sind auch wieder nicht gut. Die Charaktere erfüllen sämtliche Klischees, bleiben dabei aber nicht oberflächlich, sondern werden vom Autor, der sich ebenfalls für die Regie verantwortlich zeigt, liebevoll und ganz individuell gezeichnet. Obwohl hier alles detailliert auf Schleswig-Holstein zugeschnitten ist, könnten ähnliche Typen mit leicht modifizierten Attributen auch in jeder anderen Region existieren.
Die Kostüme reichen vom Schafsfell, über ein Piratenoutfit bis zum typischen gelben Regenmantel und die Bühne kommt im wesentlichen mit einigen beweglichen Strandkörben und der mit Piratenschiff bemaltem Verkleidung des Keyboards aus. Martin Apelt zeichnet sich für diese simple und gleichzeitig in allen Szenen atmosphärisch passende Ausstattung verantwortlich.

Reiner Schleberger, Kristin Heil, Steven Ricardo Scholz, Neele Frederike Maak (Foto: Henrik Matzen)
Die musikalische Leitung dieses mit unzähligen musikalischen Einlagen ausgestatteten Auftragswerks des Schleswig-Holsteinischen Landestheaters liegt in den Händen von Fridtjof Bundel, der als Maik Sparow, dem traurigen Piraten am Keyboard, auch darstellerisch und gesanglich ins Geschehen eingreift. In einigen Songs wird der Keyboarder durch das musikalische Mitwirken seiner Schauspielerkollegen an der Trompete, am Saxofon und an der Gitarre unterstützt.
Das Leitungsteam wird durch Kristin Heil komplettiert, die für die spritzigen Choreografien verantwortlich ist. Auf der Bühne verkörpert sie darüber hinaus eines der Schafe und die Social-Media-affine Umweltaktivistin Mia Sofie. Ihre Interpretation von Helene Fischers Song „Achterbahn“ gerät zu einem der Highlights des Abends. Während eines zur Farce geratenen Annäherungsversuch des Gutmenschen und Umweltaktivisten Finn-Ole (Steven Ricardo Scholz) im romantischen Mondschein von Sieseby leert Mia eine ganze Flasche Korn. Schließlich ist sie recht angesäuselt -ja, auch wir Norddeutschen reagieren irgendwann auf Alkohol- und legt -stets in der Rolle der Betrunkenen bleibend- eine energiegeladene Performance aufs Parkett. „In meinem Kopf ist eine Achterbahn“ bekommt so eine ganz neue Bedeutung.
Auch die zuvor von Checker (Christian Hellrigl) im Techno-Sound frei nach Scooter dargebotene Interpretation „How much is the Fischbrötchen“ steckt voller Power und Energie. Checker ist übermotiviert und frisch von der Fortbildung kommend im Auftrag der Bürgermeisterin (Katrin Schlomm) damit beschäftigt, dem touristischen Auftritt des Ortes ein frisches Angesicht zu verpassen. Die größte Innovation der Gästezimmer in Schleswig-Holstein sei in den vergangenen Jahrzehnten schließlich die Ausstattung mit fließend Wasser gewesen, so heißt es. Es ist auch seine Idee, die die Touristen verstörende Quellenplage in ein Markenzeichen umzuwandeln und Chantalle, die Qualle öffentlich für die Region werben zu lassen. Stimmlich großartig gerät dabei der musikalische Auftritt von Neele Frederike Maak, die im Laufe des Abends ebenfalls als Schaf und als Mutter Jensen zu sehen ist. Reiner Schleberger als stoffeliger Herr Hansen strotzt nur so vor trockenem Humor. Besonders köstlich ist die Szene, in der er im Fischerboot (tatsächlich ein schleunigst umfunktionierter Strandkorb) im Nord-Ostsee-Kanal zum Angeln fährt und das Publikum unter anderem wissen lässt, wie man früher einen Pferdekopf am Seil ins Wasser gelassen hat, um ihn später voller Aale wieder hochziehen zu können.
Karin Winkler als Fischbudenpächterin Frau Emmi weiß ebenfalls komödiantisch zu begeistern und bringt das Publikum schon allein durch die Aufzählung der schier unendlich scheinenden Variationen von Fischbrötchen zum lachen. Ein weiteres zentrales Thema des Stücks ist der Umweltschutz, bzw. speziell der Artenschutz. Dem Wolf Ulf (René Rollin) wird im Laufe des Abends große Aufmerksamkeit geschenkt. Einerseits rühmt man sich allgemein der Nähe zur Natur, aber Schafe reißen und womöglich Touristen verschrecken, soll Ulf natürlich auf gar keinen Fall. Als die Quallen am Strand Überhand nehmen, wird die Rolle des lästigen Problemwolfs sogar plötzlich überflüssig und für eine Weile zieht er sich gekränkt zurück. Schließlich taucht er wieder auf und fordert für sich ein Dixieklo, in das er sich zurückziehen möchte, bis die Touristen, die ihre Hinterlassenschaften sowohl in Mutter Jensens Garten als auch im Revier des Wolfs hinterlassen, wieder gen Bayern, Baden-Württemberg und so weiter verschwunden sind.

Reiner Schleberger, Karin Winkler (Foto: Henrik Matzen)
Dieser Heimatabend ist so erfolgreich, dass er kommende Spielzeit wieder aufgenommen wird. Nirgendwo sonst klingen Liedzeilen wie „Sweet Home Wesselburen“ (zur Melodie von Lynyrd Skynyrds „Sweet home Alabama“) so authentisch wie hier im ländlichen Norden! Dazu passt auch ganz wunderbar die nüchterne Atmosphäre dieser Schleswiger Interimsspielstätte, die irgendwie ein klein wenig auch an ein Dorfgesellschaftshaus erinnert und der gesellschaftliche Mittelpunkt eines schleswig-holsteinischen Provinznests sein könnte.
Marc Rohde