Online Merker Logo

Die internationale Kulturplattform

REISE UND KULTUR: DAS UNBEKANNTERE GENF

25.12.2024 | REISE und KULTUR

REISE UND KULTUR: DAS UNBEKANNTERE GENF

 Wer schon öfter in Genf (beruflich oder privat) gewesen ist und schon alle Must-See-Highlights (der Jet d‘eau, der Parc des Eaux-vives, der Jardin anglais, die Kathedrale St.Peter, das Reformationsmuseum etc.) besichtigt hat, muss nicht verzagen: es gibt auch noch viele viele andere, nicht ganz so bekannte Sehenswürdigkeiten, die einen Besuch mehr als lohnen.

An erster Stelle wäre da wohl Carouge, ein mit der Strassenbahn leicht zu erreichender Stadtteil, südlich der Arve. Genf selbst ist ja sehr protestantisch-calvinistisch geprägt: es wirkt sehr streng, geordnet, sauber, hat hohe, herrschaftliche Häuser und strahlt großen Wohlstand, um nicht zu sagen: Reichtum aus. Wenn einem also Carouge mit seinen niederen bunten Häusern und seinem ländlichen, fast mediterranen Charakter so vollkommen anders vorkommt, so ist das nicht nur völlig verständlich, sondern auch völlig begründet: denn Carouge wurde, als es noch zu Savoyen gehörte, von König Viktor Amadeo III. extra gegründet, um Genf Konkurrenz zu machen und – mittels eines Toleranzedikts – Flüchtlingen vor den fanatischen Calvinisten Zuflucht zu bieten.

Der Schachzug war ein voller Erfolg. Binnen kurzem vervielfachte sich die Bevölkerungszahl, und bald lebten hier Savoyer, Piemontesen, Franzosen, Genfer, Schweizer und Juden friedlich zusammen, ob sie nun Protestanteh, Katholiken, Freimaurer oder Juden waren.1792 kam Carouge zu Frankreich und 1816 dann endgültig zur Schweizer Eidgenossenschaft.

Die Freiheit wurde vielleicht ein wenig weniger, aber der Charakter des Städtchens in der Stadt blieb erhalten. Viele Handwerker siedelten sich hier an, und durch seine Künstler- und Bohème-Szene gilt Carouge auch heute noch als das „Greenwich Village“ Genfs.

Insofern ist es sehr angenehm und entspannend, einen Halbtags“ausflug“ hierher zu unternehmen . Seehnswürdigkeiten in dem Sinne gibt es kaum (ausser vielleicht der Eglise Sainte-Croix mit ihrem Glockenspiel), die Sehenswürdigkeit ist in diesem Fall Vieux Carouge selbst. Das sich hervorragend zum Herumspazieren, Schlendern, Sich-treiben-lassen und vielleicht ein bissl einkaufen eignet. Am besten beginnt man an dem entzückenden Place du Temple mit seinen Boutiquen, Kunsthandwerkshops, Cafés, Bars, Terrassen etc. Manchmal finden hier auch Märkte statt.

genfbistro
Bistro du Lion d‘Or. Foto: Robert Quitta

Natürlich kann man sich in Carouge von dem vielen Schauen, Schlendern und Shoppen in einem der vielen bezaubernden kleinen Bistrots ausgezeichnet regenerieren. Das Bezauberndste von ihnen ist zweifellos das Bistrot du Lion d‘Or. Wenn man davor steht, meint man zunächst, eine Zeitreise unternommen zu haben: denn die Fassade scheint seit Jahrhunderten unverändert geblieben zu sein, so dass man sich fühlt, als wäre man soeben mit der Postkutsche angekommen…

genfwacht
Die Trüffel- Wachtel – Gänseleberpastete. Foto: Robert Quitta

Im Inneren ist es dann klarerweise gegenwärtiger, aber alles ist intim und überschaubar, wie in einem Wohnzimmer von Freunden. Auch die Küche beruht auf traditionellen, lokalen Gerichten, aber mit einem persönlichen Touch des Chefkochs. „Signature Dish“ ist die mit Trüffeln, Wachteln und Gänseleber gefüllte Pastete. Über die Maßen köstlich und selbst als Vorspeise ausgiebigst.

 Der Charakter des „eigentlichen“ Genf ist maßgeblich von seiner Internationalität geprägt. Es ist die europäische Zentrale der Vereinten Nationen, Sitz von über 100 NGOs und 200 diplomatischen Vertretungen.

1920 wurde hier ja auch der Völkerbund gegründet. Dessen historischer Palast steht immer noch und ist auch besichtigbar – allerdings muss man sich da mindestens einen Monat vorher anmelden. In den modernen Nebengebäuden ist die UNHCR, die UN-Agentur für Flüchtlingshilfe, untergebracht, die leider Gottes jeden Tag mehr an Bedeutung gewinnt. Insofern ist es nicht weiter verwunderlich, dass auf dem großen Platz davor immer wieder Demonstrationen stattfinden. Wir erlebten solche für FREE SYRIA und FREE SUDAN.

genfsudan
Demonstration FREE SYRIA und FREE SUDAN. Foto: Robert Quitta

Einige hundert Meter weiter befindet sich eine weltweit einzigartige Institution, das Museum des Roten Kreuzes (und des roten Halbmonds), jener von Henri Dunant nach der Schlacht von Solferino gegründeten Organisation, die aufgrund der Schweizer Neutralität ebenfalls ihren Hauptsitz in Genf hat.

rotk
Das Museum des Roten Kreuzes (und des Roten Halbmondes). Foto: Robert Quitta

Das (einst von Nancy Reagan und Raissa Gorbatschova eröffnete) Museum ist absolut besichtigungswürdig, allerdings sollte man sich vorher an der Bar vielleicht mit einer Flasche des berühmten Schweizer Kirschwassers stärken …denn diese nahezu enzyklopädische Dokumentation des globalen Elends und Leidens geht einem unmittelbar ans Herz, an die Nieren, in die Eingeweide, ans Eingemachte…

genfdunan
 Geschenk an Henri Dunant, gefertigt von einem Kriegsgefangenen. Foto: Robert Quitta

Am Berührendsten und Unvergesslichsten sind dabei u.a.die sechs Millionen Karteikarten von Gefangenen aus dem Ersten Weltkrieg, die von Kriegsgefangenen rund um den Globus in den diversen Lagern gebastelten kleinen Gegenstände – und das in Hiroshima verkohlte Dreirad eines Kleinkindes. Eigentlich trotz Kirschwasser unerträglich – noch dazu in dem Bewusstsein, wie wenig selbst das Rote Kreuz trotz seiner gigantischen und heroischen Anstrengungen letztlich auch heute ausrichten kann – ob im Sudan, in Gaza, in Syrien und zig anderen Kriegsgebieten.

 Einzigartig in Europa ist auch eine andere Genfer Institution weitaus weniger aufwühlenden Inhalts: das CERN – Centre Européen pour la Recherche Nucléaire. Am CERN, das teilweise in der Schweiz und in Frankreich liegt, wird physikalische Grundlagenforschung betrieben, und vor allem mit Hilfe von großen Teilchenbeschleuniger der Aufbau der Materie erforscht. Der bedeutendste von ihnen ist der Large Hedron Collidor. Er ist der größte Teilchenbeschleuniger der Welt. Der Beschleunigerring hat einen Umfang von 26.659 m und enthält 9300 Magnete. Hier wird nach Hadronen, Mesonen, Kaonen, Pionen und natürlich nach Bosenen geforscht, vor allem nach dem sogenannten Higgs-Boson, vulgo „Gottesteilchen“.

Mit der Trambahn 18 kommt man von der Genfer Innenstadt direkt zum CERN, bzw. zum Science Getaway, dem von Renzo Piano erbauten Besucherzentrum (allein schon wegen der Architektur eine Visite wert). Hier kann man durch immersive Multimedia-Ausstellungen, Labor-Workshops, und Führungen zu authentischen Orten am CERN den Mysterien der Elementarteilchen ein wenig näher kommen. Man wird danach dennoch immer nur Boson und Gottesteilchen verstehen…aber das macht überhaupt nichts…denn diese Forschung im CERN ist die absolut interessanteste und faszinierendste und bewusstseinserweiterndste, die derzeit auf der Welt betrieben wird.

(Für praktischer veranlagte Gemüter: im CERN wurde übrigens auch das WWW – World Wide Web vulgo Internet – entwickelt, das wir doch alle täglich benützen und das uns allen) das Leben um Vieles einfacher macht).

Menschen, die sich für die französische Aufklärung interessieren, werden vielleicht die letzten drei letzten Wohnsitze des Grossmeisters der „Lumières“ François-Marie Arouet, genannt Voltaire, besuchen wollen: „Les Délices“ (gleich hinter dem Hauptbahnhof), „Tournay“ (ein wenig außerhalb ) und Ferney (heute schon in Frankreich, aber mit dem Bus auch nicht weit).

Und für Freunde des historischen „Reenactment“ ist es gerade zu ein Muss, rund um den 12.Dezember nach Genf zu kommen. Denn da wird in der „Escalade“ jedes Jahr die erfolgreiche Verteidigung Genfs gegen die eindringenden Savoyarden am 11.Dezember 1602 gross gefeiert. Halb Genf strömt in die Gässchen der Altstadt. Es gibt Fackelzüge, Stadtläufe, Gesänge, Hymnen, von Kindern dargebrachte Ständchen etc. – und das alles in historischen Kostümen. Ganz großes dreitägiges Spektakel, ganz großes Kino.

Allerdings sollte man schon ein Jahr vorher buchen, damit man noch ein Hotelzimmer bekommt.

 Nach so einem Besichtigungstag voller neuer, intensiver, aber auch aufwühlender Eindrücke, tut man gut daran, wieder ein wenig „herunterzukommen“, seine Nerven zu beruhigen und für sein leibliche Wohl zu sorgen.

genfbrass
Brasserie de l’Hôtel de Ville in der Altstadt. Foto: Robert Quitta

Ein idealer Platz dafür ist die Brasserie de l’Hôtel de Ville in der Altstadt, eine Brasserie, wie man sie sich wünscht, wie aus dem gastronomischen Bilderbuch. Größenmässig dazu eigentlich eher ein Bistrot: intim, heimelig, familiär. Auf einer alten Tradition fußend, aber voll in der Gegenwart angekommen.

Das klassischste Genfer Gericht ist natürlich das Fondue (das hier auch die meisten Gäste essen), aber nicht das Fondue Chinoise, das Fondue Bourguignonne oder so schicke neumodische Varianten wie Fisch- oder Wein- oder gar Schokoladen(!)- Fondue, sondern das echte, originale Fondue-Fondue, sprich: das Käsefondue.

genf3
Das Fondue. Foto: Robert Quitta

Eigentlich kann man gar nicht aufhören über die Einfachheit und Genialität dieser Schweizer Erfindung zu staunen: Man nehme einen Topf, Käse (halb Vacherin, halb Gruyère), Feuer, Brot, Gabeln, ein paar Freunde oder Familie, und schon erlebt man einen wunderbaren, wohlduftenden und unterhaltsamen Abend und ist am Schluss auch noch äußerst gesättigt (man muss sogar aufpassen, rechtzeitig aufzuhören, denn der Käse füllt den Magen und liegt in ihm).

Einfacher geht’s nicht, und besser auch nicht.

Als Alternative für Carnivoren bietet die Brasserie (außer Klassikern wie Escargots oder Froschschenkele) eine besondere Genfer Spezialität an: die Saucisse Genevoise Longeole.

Die Longeole ist eine traditionelle Genfer Rohwurst, die ausschließlich aus Schweizer Schweinefleisch hergestellt und nur mit ganzen Fenchelsamen, weißem Pökelsalz gewürzt, dafür aber vergleichsweise lang (ca.drei Stunden) gegart wird.

Wenn man dazu noch ein Glas (oder eine Flasche) des außerhalb der Stadt eigentlich auch unbekannten, aber hervorragenden Genfer Weins (z.B. den weißen Chasselas oder den roten Gamay trinkt, ist man glücklich und zufrieden, auch wenn man kein UN-Beamter, Botschafter, Milliardär, Ölscheich oder exilierter König ist.

 A vôtre Santé !

 Robert Quitta,Genève

 

Diese Seite drucken