PARIS: LES CONTES D‘ HOFFMANN. Alex Eisinger: Meine persönlichen Gedanken und Präferenzen
„Les contes d’Hoffmann gehört wie „Carmen“ zu den Werken, die bei der Uraufführung durchfielen.
Das Libretto basiert auf einem von Jules Barbier und Michel Carré kreierten Stück, das auf drei Erzählungen von E.T.A. Hoffmann zurückgreift (der Sandmann, Rat Krespel und die Abenteuer der Sylvester-Nacht). Aus diesem 1851 uraufgeführten Schauspiel hat der Mitautor Barbier auf Wunsch von Offenbach das Libretto verfasst. Ein Briefwechsel zwischen den Beiden lässt keinen Zweifel daran, dass um die endgültige Fassung gerungen wurde. Opéra comique mit gesprochenen Dialogen oder Opéra lyrique mit Rezitativen? Ebenfalls verbrieft ist, dass Offenbach seiner Tochter in seinem Todesjahr 1880 mitteilt, woran er bis zur Uraufführung an der Opéra Comique noch zu arbeiten habe. Offenbach starb jedoch vor der Fertigstellung seiner (komisch)-phantastischen Oper.
Der Komponist recycelte wie Rossini Musik aus früheren Werken.
Es gibt drei Hauptversionen:
1) Guiraud, ein Freund der Familie Offenbach, soll das Werk vervollständigen. Daraus entsteht die GUIRAUD-VERSION, die im Verlag von Choudens erschien.
Unter Zeitdruck – das Uraufführungsdatum vom 10.2.1881 stand fest – wurde das unvollständige Werk zusammengezimmert und der Giulietta-Akt gestrichen. In späteren „Unter-Fassungen“ wurde der Giulietta-Akt wieder eingefügt und im Verlauf der Jahre noch dreimal verändert.
Vorwürfe/Nachteil: Nicht alle Musikstücke sind von Offenbach und Weniges von ihm selbst wurde eliminiert.
Vorteile: keine Lizenzgebühren, somit für kleinere Häuser mit beschränktem Budget von Vorteil.
Diese Fassung gilt heute als veraltet, obwohl Prolog, Olympia- und Antonia-Akt den Intentionen des Komponisten weitgehendst entsprechen.
2) die OESER-VERSION von 1988:
Diese basiert auf dem erst in den Siebziger-Jahren des letzten Jahrhunderts gefundenen „Zensur Libretto“, das den strengen französischen Behörden vor der Uraufführung eingereicht werden musste.
Im Vergleich zur ersten Version ist der Giulietta-Akt komplettiert worden und der Epilog wurde stark ausgebaut.
Vorwürfe/Nachteil: Nach Erscheinen seiner Fassung wurde behauptet, Oeser habe eigene Musik hinzugefügt. Dies hat sich als falsch erwiesen, er hat nur fehlende Teile der Orchestrierung nach einer von Offenbach geschaffenen Klavierfassung für ein Hauskonzert vollendet.
Vorteil: Man darf davon ausgehen, dass dieses Libretto den Intentionen Offenbachs/Barbiers entspricht. Die Lizenzgebühren sind im Vergleich mit der untenstehenden, dritten Version bescheiden.
Referenz-Aufnahme in französischer Sprache 1988 auf 3 CD
Dirigent: S.Cambreling
Choeur & Orchestre Symphonique de l’Opéra National du Théâtre Royal de la Monnaie
mit N.Shicoff (Hoffmann), L.Serra (Olympia), R.Plowright (Antonia), J.Norman (Giulietta)
3) die KAYE/KECK-VERSION von
Nach Erscheinen der Oeser-Version wurden von den Nachkommen Offenbachs weiteres musikalisches Originalmaterial auf den Markt geworfen, sprich zu Geld gemacht. Sie erschien im Auftrag des Schott-Musikverlags.
Vorwürfe: sehr hohe Lizenzgebühren, 17% der Einnahmen an der Abendkasse eines Theaters müssen an den Verlag abgeführt werden.
Einfügung der sogenannten Spiegel- oder Diamant-Arie, die Offenbach nie für sein Opus summum vorgesehen hat.
Vorteil: Es handelt sich um die kompletteste Version der Hoffmanns Erzählungen.
Referenz-Aufnahme in französischer Sprache 1996 auf 3 CD
Dirigent: K.Nagano
Choeur et Orchestre de l’Opéra National de Lyon
mit R.Alagna (Hoffmann), N.Dessay (Olympia), L.Vaduva (Antonia), S.Jo (Giulietta)
Die Spieldauer beträgt je nach Fassung/Bearbeitung zwischen 2 ½ und 3 ½ Stunden.
Die Spieldauer der Opéra Bastille beträgt 170 Min, also 2h 50′, plus 2 Pause à je 20′, macht total 3h 30′
Meine persönlichen Gedanken zu den unzähligen Varianten dieses Werks:
Ich habe alle drei Fassungen in Theatern erlebt und plädiere für die heute unpopuläre erste Fassung. Meine Gründe:
1) Kurz und kompakt/Wenn der Regisseur das Werk märchenhaft und/oder fantastisch in Szene setzt, ist es bedeutend kindgerechter als „Hänsel und Gretel“. Es gibt den „Guten“-Hoffmann, es gibt den vierfachen „Bösen“ und drei faszinierende Frauengestalten.
2) Intendanten bei Arbeitsantritt postulieren stets, dass sie ein neues, junges Publikum rekrutieren müssen. Also spielt das Werk wieder in der Kurzfassung. Und zwar in der Reihenfolge, wie das Werk mehr als hundert Jahre lang höchst erfolgreich gegeben wurde, zurück zu Olympia, Giulietta, Antonia. Man wird mich in Stücke reissen, trotzdem meine Argumentation: Musikalisch gesehen ist der Olympia-Akt ein spritziger Apéritif, der Giulietta-Akt die Vorspeise, der Antonia-Akt mit seiner kulminierenden Sogwirkung hin zum Terzett der Hauptgang eines guten Essens.
3) Der Epilog der neuesten Fassung hat arge Längen, das Werk verliert an Spannung, plätschert noch ein wenig dahin und versandet.
Also, letzte Strophe Kleinzack, Hoffmann im Delirium, der Bösewicht führt Stella triumphierend ab, Vorhang. Der Bogen zum Anfang ist auch so geschlossen.
4) Natürlich war auch ich neugierig und gespannt, was die neueren Fassungen bieten würden. Und ich verstehe, dass Musikwissenschafter sich begeistert über die Funde machten. Wenn ich die Booklets der obigen Referenzaufnahmen lese, folgt ein Superlativ auf den Nächsten. Nicht nur, jedoch vor allem aus PR-Gründen.
Ich habe „der neuen Musik“ auf Tonträgern x-mal gelauscht. Meine Begeisterung hält sich in Grenzen, denn „Grossartiges“ ist kaum dabei. Und so wurde „dem Geschmack der Zeit nach integralen Werken“ zugedient, aber leider die Kompaktheit des Werks geopfert.
Alex Eisinger
PARIS / OPERA DE LA BASTILLE: LES CONTES D’HOFFMANN von J.OFFENBACH
Vorstellung am Sonntag, 3. Dezember 2023
Direction musicale: Eun Sun Kim
Orchestre et Choeurs de l’Opéra national de Paris
Chef des choeurs: Alessandro di Stefano
Mise en scène: Robert Carson
Décors et costumes: Michael Levine
Lumières: Jean Kalman
Chorégraphie: Philippe Giraudeau
Hoffmann: Benjamin Bernheim
Olympia: Pretty Yende
Giulietta: Antoinette Dennefeld
Antonia: Rachel Willis-Sorensen
Lindorf/Coppélius/Dapertutto/Miracle: Christian Van Horn
La muse/Nicklausse: Angela Brower
Andrès/Cochenille/Pitichinaccio/Frantz: Leonardo Cortellazzi
Spalanzani: Christophe Mortagne
Nathanael: Cyrille Lovighi
Hermann: Christian Rodrigue Moungoungou
Maìtre Luther/Crespel: Vincent Le Texier
La voix de la mère d’Antonia: Sylvie Brunet-Grupposo
Schlemil: Alejandro Balinas Vieites
Alex Eisinger im Dezember 2023