Von der Faszination antiker Mythen und historischer Figuren Der Komponist Manfred Trojahn
In einem Interview am 18. März anlässlich der Aufführung seiner Oper Orest an der Wiener Staatsoper – Premiere am 31. März – spricht Manfred Trojahn über sein musikdramatisches Schaffen, über die mythischen Stoffe, die ihn beschäftigen, sowie über seine Erfahrungen bei der szenischen Umsetzung seiner Werke. Außerdem gibt er einen Einblick in seine kompositorische Vorgangsweise und kommt auch auf zukünftige Projekte zu sprechen. Besonders aufschlussreich – da er gleichzeitig auch der Verfasser des Librettos ist – sind seine pointierten Charakterisierungen der Hauptpersonen der Oper: Orest, Elettra, Hermione, Helena, der Chor der Erinnyen.
Das Gespräch führte Manfred A. Schmid
Manfred Trojahn. Foto: Wiener Staatsoper/ Bärenreiter-Verlag/Kassel
Herr Trojahn, welche Rolle spielt das Musiktheater in Ihrem musikalischen Schaffen?
Keine ausschließliche, aber eine sehr wichtige. Aber das ist erst in den letzten Jahrzehnten so und hängt damit zusammen, dass ich lange Zeit keinen geeigneten Stoff für eine Oper gefunden hatte. Bis ich auf Pirandellos Enrico IV aufmerksam wurde, was dann zum Inhalt meiner ersten Oper Enrico (UA 1991) wurde. Aber da war ich schon vierzig Jahre alt. Davor habe ich jede Menge anderer Stoffe überlegt und wieder verworfen. Es war aber für mich von Anfang an klar, dass es ein großangelegtes Werk werden sollte und keine der damals so in Mode stehenden Kammeropern. Interessanterweise ist meine Erstling Enrico dann doch so etwas wie eine Kammeroper geworden!
Wenn eines Ihrer Stücke neu inszeniert wird, wie das eben gerade jetzt an der Wiener Staatsoper der Fall ist, sind Sie da in die Proben eingebunden?
Ich interessiere mich natürlich dafür, aber als Komponist entlässt man, wenn es einmal fertig ist, das Stück in die Freiheit. Das ist wie mit einem Kind, das man großgezogen hat: Jetzt ist es erwachsen und muss für sich selbst bestehen! Der Regisseur und Ausstatter Marco-Arturo Marelli hat mir aber den Entwurf für das Bühnenbild zugeschickt, wohl wissend, dass ich mich dafür besonders interessiere. Auf die Regie bin ich natürlich auch neugierig. Ich habe ja selbst schon bei eigenen Werken Regie geführt, z. B. bei Limonen aus Sizilien. Dabei habe ich bemerkt, dass ich als Komponist anders denke, als wenn ich Regisseur bin.
Kann es sein, dass das Regie-Führen Einfluss darauf genommen hat, wie Sie als Komponist arbeiten?
Ich hoffe nicht, denn ein Regisseur muss e i n e Regielösung für ein Stück finden. Ein Komponist hingegen muss ein Stück erfinden, für das v i e le Regielösungen möglich sind. Das ist der große Unterschied. Wenn ich szenisch als Komponist denke, dann kann ich mir jeden Tag etwas Anderes vorstellen. Ein Regisseur nicht, denn er ist, sobald er es einmal gefunden hat, gebunden an ein bestimmtes Konzept.
Ich habe Einblick in die Partitur nehmen können. Dabei ist mir aufgefallen, dass Ihre Regieanweisungen eher karg gehalten sind.
Immer noch zu viele, finde ich! Der Text muss so klar sein, dass er Auskunft darüber gibt, wie das Stück läuft. Und dann kann es eigentlich gar nicht mehr so viele Fragen geben zur Umsetzung. Das heißt, die Freiheiten für den Regisseur vergrößern sich, je weniger ich vorgebe. Aber in Wahrheit ist es ja ohnehin so: Kein Regisseur fühl sich daran gebunden, was ich da hinschreibe. Daher ist es müßig, dabei zu viel Aufwand zu treiben.
Zum Inhalt der Oper Orest. Was hat Sie an diesem Stoff – Schuld und Sühne – fasziniert?
Eigentlich ist es ein menschliches Grundthema, das hier behandelt wird. Es ist d a s menschliche Grundthema überhaupt. Darüber gibt es seit langem eine gesellschaftliche Diskussion. Es ist aber nicht so, dass ich glaubte, ein aktuelles Thema aufgreifen und mich an einem bestimmten Problem abarbeiten zu müssen. Eigentlich geht es darum, dass sich jemand – Orest – seine persönliche Freiheit erkämpft und erfindet. Ich habe aber nicht vor, jemanden zu belehren, man wird man also nicht erfahren, wie diese persönliche Freiheit aussieht. Man erlebt aber in dem Stück, wie sich jemand von den Dingen, die seine persönliche Freiheit einengen und sie empfindlich eingrenzen, abwendet. Das sind gesellschaftliche Konvention, auch Religion gehört dazu, also das, was hier die Götter sind. Das meint nicht Entgottung, denn hier geht es nicht um das religiöse Verhalten einer Privatperson. Mich interessiert die politisierte Religion. Man sieht, wie ein Gott – er ist sowohl Apollo als auch Dionysos in einem – nach politischen oder egoistischen Maßstäben seine Ränke zieht. Orest gelingt es schließlich, sich daraus zu befreien, allerdings unter viel Mühe.
Ist Orest ein Getriebener? Und was treibt ihn an?
Orest ist ein Getriebener, weil er sehr unterschiedlichen Dingen meint gehorchen zu müssen. Zum einem diesem Apollo, der ihm im Orakel sagt, was er zu tun hat. Zum anderen ist es Elektra, die ihn in seinen Handlungen lange Zeit bestimmt. Er ist ein zur Ausübung der Rache Getriebener.
Wie sehr halten Sie sich an die Vorlage der antiken Überlieferung des Orest-Mythos?
Ich bin kein Gräzist. Mein Orest ist daher auch keine historische Oper, sondern ich bediene mich darin dieser historischen Figuren – nicht zuletzt auch aus Interesse an der Hofmannsthal-Strauss-Elektra, deren Fortsetzung die Oper Orest in gewisser Weise ja auch ist. Allerdings nur thematisch, und auch da gilt, dass in vielem doch anders gedacht wird. Auch musikalisch gibt es kaum Berührungspunkte. Merkwürdigerweise hat man schon nach der Uraufführung einige Affinitäten herbeiphantasiert, die jeglicher Basis entbehren So hat man etwa gemeint, dass mein Orchester das Elektra-Orchester sei. Es ist aber in Wahrheit nur ein Drittel so groß…
Welche Rolle spielt Hermione auf Orests Weg zu Freiheit? Steckt da nicht ein Stück Erlösungsgeschehen mit drin?
Orest ist von Hermione fasziniert, weil sie jemand ist, der so denkt, wie er gerne denken möchte. Dadurch gelingt es ihm, näher an sich selbst heranzukommen. Ich habe in Ihrer Beziehung aber nie als eine Liebesgeschichte gesehen. Dazu gibt es allerdings unterschiedliche Deutungen in den Inszenierungen. Im antiken Mythos verehelichen sie sich. In meiner Oper aber ist es so: Orest kann Hermione ansehen, und zwar nachdem er ihre Mutter – Helena – umgebracht hat. Er erkennt seine Schuld und gesteht sie ihr gegenüber ein. Deshalb hängt er an ihr. Dann gibt es in der Oper einen Moment, der vielleicht zu den Missverständnissen geführt haben könnte: Die Erinnyen – sechs Frauenstimmen und sechs Geigen vom Band, die immer wieder im Stück auftauchen., z.T. aus dem Publikum oder aus dem Kopf von Orest – treten am Schluss nochmals in Erscheinung. Orest sieht seine Schuld ein und löst sich von allem Belastenden, wird seine Schuld dadurch aber natürlich nicht los. In dem Augenblick, da ihm klar wird, dass er Schuld auf sich geladen hat, ertönt ein Schrei. Dazu habe ich in der Bühnenanweisung geschrieben, dass Hermione ihn umarmt. Ich habe das aber eher als eine schützende, mütterliche Umarmung gesehen und nicht so sehr als Geste einer Liebesbeziehung. In der Amsterdamer Uraufführung aber wurde schon eine Liebesbeziehung daraus, und in einigen der folgenden Inszenierungen wurde es dann aufgegriffen und auch weiterhin so gehandhabt.
Wie ist es in der Inszenierungsgeschichte Ihrer Oper zu dieser Umdeutung der Beziehung Orest-Hermione zu einer Liebesgeschichte gekommen?
Als Katie Mitchell, die Regisseurin der Uraufführung, mit ihrem Inszenierungskonzept begann, war ich mit meinem Stück noch nicht ganz fertig. Sie ließ das Ganze im Winter spielen. Nun gibt es aber in der Auftrittsszene Hermiones eine Stelle, wo sie sagt, dass es heiß draußen ist und dass die Zikaden schreien. Das geht nun im Winter aber gar nicht. Mitchell löste das Problem so: Es gibt einen Tisch, an dem Orest immer in sein Tagebuch schreibt. Dort hat man einen Pullover hingelegt. Hermione kommt, nimmt den Pullover, riecht daran und zitiert dann aus dem Tagebuch die betreffende Stelle. So etwas aber macht man wohl nur, wenn man verliebt ist. Und damit war die Liebesgeschichte zunächst einmal in der Welt. In der bisher letzten Neuinszenierung in Zürich ist man mit diesem Problem schon sehr virtuos umgegangen: Regisseur Neuenfels schickt die beiden auf den Weg, da bleibt das Mädchen stehen, und Orest geht allein weiter. In der derzeit vorbereiteten Wiener Inszenierung hat man ebenfalls eine kreative Lösung gefunden, die ich aber hier noch nicht verraten werde.
In der Hofmannsthal-Strauss-Oper sinkt Elektra im Siegestaumel nach der Ermordung Klytämnestras leblos zu Boden, was oft als ihr Tod inszeniert wird. In ihrer Fortsetzung ist das nicht so. Was für eine Rolle spielt sie?
Sie ist d i e zentrale, treibende Figur des Geschehens. Eine fanatische, geradezu terroristische Person, die ihren Bruder dazu bringt, Helena zu töten, und – wenn es nach ihr ginge, und das wird in der Wiener Inszenierung auch besonders betont, – sie will auch, dass er Helenas Tochter Hermione umbringt. In dem Moment aber, als Orest sich dagegen wehrt und das nicht tut, wird Elektra machtlos und verliert alle ihre Kraft. Sie reiht sich ein, wie Menelaos, in die Riege der „Erstarrten“; das sind jene, die nicht aus den überkommenen gesellschaftlichen Strukturen herauskommen. In gewisser Weise schließt sie damit an die wie leblos zu Boden sinkende Elektra am Ende der Hofmannsthal-Strauss-Oper an. Das hat auch Evelyne Herlitzius, die an der Staatsoper die Elektra verkörpern wird, an dieser Figur festgemacht: Dass Elektra – von ihrem Fanatismus einmal abgesehen – ein völlig ausgebrannter Mensch ist. Nur zweimal lässt sie erahnen, dass noch andere, stets unterdrückte Lebensmotive in ihr stecken: In einem Frauenterzett bekennt sie, in Hermione das zu sehen, was sie nicht sein hat können, und in einer Szene mit Orest, der in Schlaf versinkt, erinnert sie sich an ihre desaströse Mutterbeziehung und bedauert – ähnlich wie Chrisothemis, auf die ich mich hier aber nicht beziehe – dass es ihr nicht vergönnt war, Mann und Kind zu haben. Diese beiden Stellen zeigen, dass hinter ihren terroristischen Parolen doch etwas streckt, auf das sie verzichten musste.
Helena, mit deren Ermordung Orest seinen Rachefeldzug abschließt, was für eine Rolle spielt sie in Ihrer Oper?
Helena kommt aus dem Trojanischen Krieg, dessen Auslöser sie gewesen ist, zurück und tut so, als ob sich nichts geädert hätte und sie weiter so tun könnte, wie immer. Wenn sie Hermione sieht, glaubt sie, in einen Spiegel zu schauen und sich selbst zu sehen. Sie nimmt einfach nicht zur Kenntnis, dass sie alt und nicht mehr so attraktiv für die Männerwelt geworden ist.
Wenn es um die zentrale Schuldfrage geht: Wie sieht Orest die Schuld seiner Mutter Klytämnestra?
Da muss man den Hintergrund beachten und sollte zuerst festhalten, dass Klytämnestra von einer Rechtsform des Matriarchats ausgeht. In diesem Matriarchat werden die Ehemänner von Königinnen alle zehn Jahre ausgetauscht, d.h. einen Kopf kürzer gemacht, und durch neue Männer ersetzt. Mit anderen Worten: Wenn Agamemnon nach zehn Jahren aus dem Krieg zurückkommt, ist er ohnehin dran. Außerdem ist zu erinnern – auch wenn es darum in der Oper gar nicht geht – dass er selbst Klytämnestra, die ja vorher schon verheiratet war, selbst unter furchtbaren Umständen gewonnen hat. Orest wird nach seiner Rückkehr davon informiert, dass er jetzt einem patriarchalischen Rechtssystem angehört und daher seinen Vater zu rächen hat. Er geht also von einer anderen Rechtsform aus als seine Mutter. Er hat eigentlich, wenn man so will, Recht im Sinne Apollos, seinen Vater zu rächen. Aus der Sicht Klytämnestras kommt das gar nicht in Frage. Orest gerät dadurch in ein Dilemma. Apollo sagt im, wenn du das nicht machst, wirst du expatriiert, und das ist beiden Griechen immer das Schlimmste gewesen. Schlimmer als die Todesstrafe.
Zum Abschluss: Wie sehen Sie ihre musikalische Entwicklung? Wie haben Sie Ihren persönlichen Stil gefunden?
Der eigene Stil lässt sich nicht so leicht festmachen. In der Zeit, als ich Enrico machte, musste eine Oper so sein, in der Zeit, als ich Orest machte, musste die Oper anders sein. Es gibt immer noch bestimmte Dinge, die ähnlich wichtig sind. Ich war mal am Anfang, so um 1970, sehr nahe an Ligeti und habe mich viel mit der Reduktion von Clustern beschäftigt Irgendwann hat mich dann diese „Clusterei“ nicht mehr interessiert, und ich war bestrebt, aus diesen Cluster-Tönen herauszukommen. Da kommt man dann schnell zu verminderten und übermäßigen Akkorden, das ist einfach so. Eine große Rolle spielten Tritonus-Verhältnisse, da kommt es oft zu Verschachtelungen. Momentan arbeite ich viel mit Quarten, d.h. der Tritonus ist nicht mehr so von zentralem Interesse. Es sind eher so kleine Details, die dann für die einzelnen Stücke eine Rolle spielen. Dadurch wird auch das Klangbild ein anderes.
Zukunftspläne?
Mein nächstes Projekt ist eine Komposition mit dem Titel Der Brief, nach de, Text „Brief des Lord Chandos an Francis Bacon“ von Hugo von Hofmannsthal. Das ist allerdings keine Oper, sondern eine Szene für einen Sänger und Orchester. Ich habe dafür die Bezeichnung „eine reflexive Szene“ gefunden, woraus schon hervorgeht, dass es sich dabei nicht um pralles Musiktheater handelt. Aber es gibt auch ein neues großes Musiktheaterprojekt für Amsterdam, das – wenn ich das Leben habe – 2022 herauskommen wird. Es wird ein Stück rund um die Figur der Eurydice sein und ein bisschen in eine andere Richtung gehen. Sie wissen vielleicht, ich lebe als Pendler zwischen Deutschland und Frankreich, und gerade zur Orpheus-und-Eurydice-Mythos gibt es genuin französische Lösungen – man denke nur an den Orphee von Cocteau. Dazu kommt mein Interesse an griechischen Mythen wie dem des Minotaurus, worüber ich ja auch gearbeitet habe und der auch in der Malerei von Picasso eine Rolle spielt. Es ist also ein Projekt, das sich wesentlich von der deutsch-österreichischen Musikkultur entfernt, als etwa der Orest, und hin tendiert zu einer eher mittelmeerisch-französischen Angelegenheit. Ich bewege mich da ja tatsächlich immer in einem Dazwischen. Da gibt es zum einen den Strang, der von Deutschland über Österreich nach Italien führt, ohne den ich nicht existieren kann. Und das andere ist die französisch-mittelmeerische Achse, ohne die es auch nicht geht. Ich kann nur beides nicht zusammenbringen. Es gibt Ensemblestücke von mir, etwa die mit René Char-Texten, die so unterschiedlich sind von anderen Stücken von mir, dass man beim Hören kaum vermuten würde, dass sie von ein und demselben Komponisten stammen.
18.3.2019
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