LUIGI ROSSI L‘ORFEO – PYGMALION , PICHON – harmonia mundi DVD, Blu-Ray
A Star is born: FRANCESCA ASPROMONTE als Euridice in einer sensationellen musikalischen Wiederbelebung
Nach der verdienstvollen, längst vergriffenen Pionieraufnahme dieser Oper mit William Christie im November 1990 (erschienen ebenfalls bei harmonia mundi) legt nun der junge künstlerische Leiter des höchst erfolgreichen Barockensembles Pygmalion, Raphaël Pichon, nach. Dies nicht nur mit einer neuen, bloßen Tonaufnahme, sondern einer szenischen Erarbeitung und musikalischen Neueinrichtung dieser ersten barocken Grand Opera, die schlicht Weltklasse sind. Schauplatz der gelungenen Erstaufführung war die Opéra national Lorraine in Nancy (4. Februar 2016). L‘Orfeo gilt als eine der originärsten und aufregendsten Schöpfungen der Oper des 17. Jahrhunderts, musikalisch ein Bindeglied zwischen dem recitar cantando eines Monteverdi und dem bel canto von Cavalli begründend.
Die durch massive politische Intervention und Hybris belastete Kreation der Oper im Palais Royal in Paris zum Karneval 1647 war auf Mazarin zurückzuführen, der zur Stärkung seiner Macht ein sechsstündiges, teures und aufwändiges Spektakel mit einer Vielzahl an Solisten, Chor und Ballett auf drei Handlungsebenen bestellt hatte. Allerdings ging der Schuss nach hinten los. Der Adel nutzte die Gunst der Stunde, seine unter Ludwig XIII. stark beschnittenen Feudalrechte wiederherzustellen. Unzufrieden mit der Politik Mazarins, Minister Annas von Österreich, der Mutter des noch minderjährigen Ludwig XIV. war, begannen 1648 vor allem in und um Paris die berühmten Fronde-Aufstände gegen die Regentin.
Auf Dauer vermag Politik den wahren Wert eines Kunstwerks allerdings nicht zu korrumpieren. So ist dieser Orfeo von Luigi Rossi nichts anderes als ein funkelnd schillerndes barockes Universum an tragischen und humorvollen Geschichten samt allen Verstrickungen und herrlichster Musik rund um Orfeos Sieg über die Unterwelt, Trumpf der Liebe und des Vertrauens über den Tod. Als Tragikomödie konzipiert, ist die Haupthandlung durch eine Vielzahl an Szenen aller Genres (in Tänzen, Rezitativen, Arien, kunstvollen Ensembleszenen, Chören gegliedert) erweitert.
Da gibt es den eifersüchtigen Aristäos (Giuseppina Bridelli), der von Eurdice nicht erhört wird und sein Los gegenüber einem burlesken Satyr (Renato Dolcini) und Venus beklagt. Venus erhört Aristäos. Als altes Weib verkleidet (köstlich Dominique Visse) versucht die Liebesgöttin allerlei Listen, vor allem eine Entführung der von Aristäos Angebeteten in Gang zu setzen. Auf der anderen Seite überzeugen der dicke Momos, Gott des Spottes und des Lästerns (Marc Mauillon) und Apollo (David Tricou) Amor (Ray Chenez), seine Mutter Venus zu verraten und Euridice (Francesca Aspromonte) und Orfeo (Judith van Wanroij) mit allen Mitteln zu unterstützen. Das lässt sich die wütende Göttin (Lob der Unbeständigkeit) nicht gefallen und schwört – wieder rückverwandelt (Giulia Semenzato) -Rache. Dann darf die Giftschlange zubeißen und wir uns in die Unterwelt begeben. Auch hier wird nicht nur Trauer besungen, sondern es gibt eine verrückte Szene zwischen dem Satyr, Momos und Aristäos, der übergeschnappt ist und sich für Deukalion (den einzigen Überlebenden der Sintflut) hält. Betrunkene Bacchantinnen singen im Chor, bevor sie von Bacchus den Befehl erhalten Orfeo in Stücke zu reißen.
Die praktikabel reduzierte Inszenierung (Jetske Mijnssen) spielt sich in einem hermetischen Raum ab: einige Stühle, Tische, Kerzenleuchter und Vorhänge genügen als Requisiten. In schicke schwarz-weiße, überwiegend aber helle Kostüme gekleidet, geht so die verrückte Göttergesellschaft nicht ihrem Ende entgegen, darf aber rund um den Orfeo-Mythos wüst albern und Klamauk treiben.
Dass es aber auch hehre Gefühle und deren Ausdruck in himmlischen Gesängen und Duetten gibt, dürfen Francesca Aspromonte als Euridice und Judith van Wanroij als Orfeo unter Beweis stellen. Wir wollen die beiden noch nicht wie Jupiter am Ende der Oper in Sternbilder verwandeln. In der barocken Theaterwelt sind aber tatsächlich zwei Sterne aufgegangen. Besonders die bildschöne Kalabresin Francesca Aspromonte, eigentlich Cembalistin und Pianistin, vermag mit einem leuchtenden, in allen Astralfarben blühenden lyrischen Sopran zu bezaubern. Eine veritable Entdeckung.
Raphaël Pichon und seinem Ensemble Pygmalion können gar nicht genug Rosen gestreut werden für die musikalische Einrichtung und deren höchst lebendige Umsetzung. Keine Spur eines Theatermuseums haftet dieser Aufführung an. Es wird mit einer entwaffnenden Unmittelbarkeit und Natürlichkeit musiziert. Drei kurzweilige Stunden barocken Welttheaters, das vor allem aus der Musik schöpft und diese nicht noch szenisch zu übertreffen sucht. Die filmische Adaption durch Stéphane Vérité wartet mit wunderschönen Nahaufnahmen und angenehm dezenter Bildregie auf. Dieser Besuch der lothringischen Nationaloper in Nancy auf dem Bildschirm lohnt sich!
Dr. Ingobert Waltenberger