DVD/BluRay: NILSSON A LEAGUE OF HER OWN – Filmdokumentation von Thomas Voigt und Wolfgang Wunderlich; UNITEL
Hommage zum 100. Geburtstag der einzigartigen dramatischen Sopranistin
Nicht von dieser Welt und doch so viel an Bodenhaftung: Das war das Phänomen Birgit Nilsson, das uns Thomas Voigt und Wolfgang Wunderlich in ihrer englisch-sprachigen Filmdokumentation zeigen. Nina Stemme versucht das Wesen der begnadeten Sängerin in kurzen Worten so auf den Punkt zu bringen: „She was so divine, so human, so humble, so funny, so intelligent.“
Jeder, der sie wie ich etwa als Tosca, oft als Elektra oder Färberin live erleben durfte, bewunderte/verehrte Nilsson für ihr unverwechselbares Timbre, die Riesenstimme, Top Höhen, die fabelhafte Technik, aber auch eine breite belastbare Mittellage, eine beeindruckende Tiefe sowie eine unglaubliche, magisch zwingende Bühnenpräsenz. Gesprochen hat Nilsson mit tiefer, schön modulierter Sprechstimme.
Ich durfte sie mit meiner Wiener Stehplatzfreundin Hanni, einer glühende Anhängerin, nach einer Vorstellung zum Hotel Mailberger Hof in der Annagasse begleiten. Am Ende des dritten Aktes „Frau ohne Schatten“ fieberten wir, wer länger das hohe C halten kann, die Rysanek oder die Nilsson. Meistens hat die Nilsson ganz klar gewonnen. Ihr humorvolles Wesen, ihr verschmitztes Lachen, ihre Ernsthaftigkeit waren wie alles an Nilsson klar, eindeutig und unverwechselbar. Selbst ihre Vorgängerin als Isolde und Brünnhilde in Bayreuth, Martha Mödl outete sich mir gegenüber nicht nur einmal wortwörtlich als „Nilsson Fan“. So konnte Birgit Nilsson selbst die Darwinschen Naturgesetze der legendären Konkurrenz zwischen Rivalinnen im selben Fach außer Kraft setzen. Ganz einfach, weil sie in Wirklichkeit aufgrund ihrer Souveränität, der unerreichten und unerreichbaren Leichtigkeit, mit der sie Brünnhilde und Isolde singen konnte, keine Konkurrenz hatte.
Der Film übersetzt dieses einzigartige Phänomen trefflich mit dem Titel “Eine Klasse für sich.“ Thomas Voigt und sein Team haben eine Unzahl an teils bekannten, teils unbekannten Filmausschnitten, Zitaten von KollegInnen, Fans, Dirigenten und Regisseuren zusammengetragen und zu einem umfassenden, äußerst sympathischen, aber auch berührenden Bild montiert. Und sympathisch, das war Nilsson neben ihrem – so scheint es retrospektiv – außerirdischen sanglichen und dramatischen Können allemal. Die schwedische Bauerntochter, die vorerst einmal Kühe melken und bei der Ernte helfen musste, hatte es aber gar nicht so einfach, aus ihrem bodenständigen Milieu auszusteigen.
Entdeckt als Talent in der örtlichen Kirche, debütierte sie nach kurzen Studien an der Oper in Stockholm. Manche der damaligen Pultmonster waren gar nicht nett zur jungen Birgit, Leo Blech in Freischütz etwa hat ihr Tränen in die Augen getrieben. Verdis Lady Macbeth war auch eine Herausforderung in ganz jungen Tagen. Fritz Busch unterstützte sie, dennoch sollte es lange Jahre dauern, bis sie sich an die Rolle in Schweden, diesmal für den Film, wieder heranwagte.
1948 heiratete Birgit Nilsson einen Veterinärarzt und sie verlor ihre geliebte Mutter wegen eines sinnlosen Unfalles mit einem Autobus, ein unglaubliches Drama für die junge Künstlerin, alkoholisierter Fahrer inklusive. Hans Knappertsbusch war wohl der entscheidende Entdecker von Birgit Nilsson, scheute sich aber in München nicht davor, die Sopranistin nach einem kleinen Einsatzschnitzer in Salome wüst zu beschimpfen. 1954 sang sie das erste Mal am Theater an der Wien, innerhalb von neun Tagen absolvierte Nilsson hier vier Rollendebüts (Sieglinde, Elisabeth, Elsa, Aida!).
1957 fand die erste Premiere in Bayreuth statt, die Isolde unter Wolfgang Sawallisch. Ich finde, dass die Isolde überhaupt DIE Nilsson Partie war, angeblich hat sie die Rolle alleine mit ihrem Partner Wolfgang Windgassen allein 90 mal interpretiert. Die schönste Aufnahme Nilssons ist für viele und auch für mich der Mitschnitt von den Bayreuther Festspielen in den 60-er Jahren, genau so unverzichtbar wie der Bayreuther Ring unter Karl Böhm.
Der Film enthält auch jede Menge an Anekdoten: „Die Gagenverhandlungen mit Nilsson waren sehr einfach. Sie verlangte überall ganz simpel nach den Höchstgagen (und bekam sie auch)“. Oder das legendäre Foto von Carlos Kleiber knieend in der Badehose vor der Nilsson am Strand in Mexiko.
Natürlich ging diese stimmliche Übermacht nicht ganz friktionsfrei vonstatten. Franco Corelli in Turandot etwa fand es gar nicht lustig, in Boston anlässlich einer MET Tournee von seiner Bühnenpartnerin beim hohen C konditionell übertrumpft zu werden. Einem anderem Partner, Richard Tucker, hat sie in Verdis Ballo in Maschera nach dem Duett das Längerhalten des Tons leichter vergeben. Auch Skurriles erzählt Nilsson bei einem Interview anlässlich des Opernballs 1995, wo sie von ihrem langen leidenschaftlichen Kuss mit Placido Domingo in der Arena von Verona schwärmt.
Clemens Hellsberg von den Wiener Philharmonikern empfand gar ihre stimmliche und künstlerische Autorität als Auslöser seiner Karriere und absolutes Vorbild.
Der (menschliche) Konflikt mit Karajan kommt im Film naturgemäß ebenso aufs Tapet, freilich nicht ohne die überwiegenden musikalische Konvergenz zu betonen. Was den Ring betrifft, so „brauchte Karajan sie, aber Böhm wollte sie“, weiß Christa Ludwig zu berichten. Die Walküre an der MET sollte die letzte triumphale Zusammenarbeit der beiden Giganten sein, der eine wie die andere in ihrer Unerschöpflichkeit, Kraft und ihrem Wollen auch Symbole der Wirtschaftswunderjahre.
Was vielleicht nicht so bekannt ist, war das bahnbrechende künstlerische Zusammenwirken von Wieland Wagner mit Birgit Nilsson. Martha Mödl hat ja Ähnliches von ihrem hypnotischen Eindruck der Arbeitswirkung Wieland Wagners berichtet. Wieland Wagner soll ja gesagt haben „Nilsson became famous, before she was great.“ Wagner hatte eine Schlüsselrolle in der künstlerischen Entwicklung der Nilsson gehabt, er hat sie „unlocked“, so ein Zeitzeuge.
Berührend in der Dokumentation ist die Liebesgeschichte des Wiener Stehplatz-Publikums zu ihrem Publikumsliebling Nilsson mit der Überreichung eines goldenen Ehrenrings, den nur die „Stehplatzler“ sich abgespart und bezahlt hatten. Was für eine großartige Geste! Die Nilsson hat das selbst als legale Verlobung mit dem Wiener Stehplatz bezeichnet. Und wirklich, ich bin ja auch damals oft im berühmten Kipferl Parterrestehplatz gestanden: Die Stimme der Nilsson konnte man nicht nur hören, sondern im Rücken vibrieren spüren. Einzigartig!
Die Birgit Nilsson Foundation /Rutbert Reisch (mit den erhellendsten und klügsten Wortmeldungen) hat diesen hochinteressanten und mit reichem Originalmaterial unterlegten Film in Auftrag gegeben. Passend zur Größe der Ehrenden selbstredend an die beiden besten am Markt. Thomas Voigt (auch als Buchautor mit schönen Monographien über Borkh, Mödl, T. Kaufmann eine Klasse für sich) und Wolfgang Wunderlich.
Man möge mir verzeihen, dass bei Birgit Nilsson immer den richtigen Abstand zu haben schwer möglich ist, zu nahe geht das Porträt, zu nahe geht die Stimme, die generöse Person (samt den KollegInnen, die mit ihr gesungen haben), dieses Lachen, diese unwahrscheinliche, echte Bescheidenheit einer großen Diva. Die Abende mit Nilsson waren mit die intensivsten Opernerlebnisse meines Lebens, das nimmt mir beim Ansehen bisweilen die Luft. Gar nicht aus Nostalgiegründen, sondern pur aus echt (wieder)erkannter Größe, Wahrhaftigkeit und Intensität des nun Nach-Erlebten und leider endgültig Dahingegangenem. Wer die Nilsson nicht live erlebt hat, kann sich anhand der fantastischen, absolut jubiläumswürdigen Dokumentation ein ungefähres Bild davon machen.
CD-Tipps außerhalb des Mainstreams: Tristan und Isolde; Live Mitschnitte aus Bayreuth Sawallisch 1958, Myto, Tristan und Isolde, Mailänder Scala Karajan 1959, Myto – beides gibt es noch im Internet zu kaufen.
Dr. Ingobert Waltenberger