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DVD/Blu Ray: : NICCOLÒ JOMMELLI: IL VOLOGESO oder Berenice, Königin von Armenien

Erste Neuinszenierung seit 1769!, live Oper Stuttgart Mai 2015; NAXOS

29.04.2018 | dvd

DVD/Blu-Ray: NICCOLÒ JOMMELLI: IL VOLOGESO oder Berenice, Königin von Armenien – Erste Neuinszenierung seit 1769!, live Oper Stuttgart Mai 2015; NAXOS

Veröffentlichung: 11. Mai

Ja auch Stuttgart war einmal Nabel europäischer barocker Opernkunst: Genau für 15 Spielzeiten, als Jommelli 1753 bis 1768 am Württembergischen Hof engagiert war. Daran sollte zum 300. Geburtstag Jommellis in Stuttgart mit der Aufführung der Opera seria „Il Vologeso“ erinnert werden. 250 Jahre war es damals her, dass diese Oper zuletzt auf einer Bühne zu sehen war. Das populäre Sujet unter verschiedenen Titeln wie „Vologeso“ oder „Berenike“ wurde allein zwischen 1700 und 1816 ungefähr 100 mal vertont. Selbst für Jommelli war der hier zu sehende, am Hoftheater Ludwigsburg 1766 uraufgeführte Vologeso die zweite kompositorische Befassung mit dem Plot nach dem als „Lucio Vero“ 1754 in Milano herausgebrachten Stück. „Il Vologeso“ ist das musikalisch wohlgelungene Produkt einer Überarbeitung unter Zuhilfenahme der damals aktuellsten venezianischen Fassung Giuseppe Sartis. Worum geht‘s? Lucio Vero, Mitregent des römischen Kaisers Marc Aurel, hat sich auf dem Feldzug gegen die Parther in Berenike, Königin von Armenien und Braut seines totgeglaubten Gegners Vologeso, verliebt. Doch Vologeso lebt. Und auch die Kaisertochter Lucilla ist nicht bereit, ihren Anspruch auf die Hand ihres Verlobten Lucio Vero aufzugeben. Am Ende ein aufklärerisch angehauchtes, nachdenklich in der Gegenwart angesiedeltes „Happy end“.

Für die Regie zeichneten Sergio Morabito und Jossi Wieler (der Chefdramaturg und sein Intendant) verantwortlich. Ein wahrlich eingespieltes Team, das 36 gemeinsame Opernproduktionen in 25 Jahren erarbeitete. Das Stück wird von den beiden nicht ohne Komödiantik sachte an ein angsterfülltes Jetzt herangeführt. Spiel im Spiel, die brennende Frage im Gepäck, was Kunst in unsicheren, bürgerkriegsbedrohten Zeiten bewirken kann. Aber auch die Fragen nach der Identität und den eigentlichen Motiven der Handelnden interessiert Wieler/ Morabito, die alle Unsicherheit und das existenzielle Ringen der Figuren geschickt in eine exquisite Personenregie transponieren. Bühnen- und Kostümbildnerin Anna Viebrock hat in diesem Sinne eine durch Waffengewalt versehrte Stadt auf die Bühne gehievt, über die historisch Gemaltes als barocker Aufsatz gestülpt wird. Die solcherart hübschen Kulissen zitieren Fragmente aus Tintorettos „Die Fußwaschung“. Die Kostüme signalisieren die zwischen dem Jetzt und der imaginierten Antike verlaufenden Zeitebenen. Am Schluss der Oper zeigt sich raffiniert, dass wir der Zeit, in der wir leben, auch durch Kunst und Musik nicht entkommen können. Alle reissen sich die auf der Haut unangenehm gewordenen Kostüme sprichwörtlich vom Leib. Die Aufgabe stellt sich hier und jetzt, keine noch so ausgeklügelte Maskerade darf darüber hinwegtäuschen.

Die wahre Sensation der Aufführung ist die Musik, die spätbarocke Elemente mit wunderbar empfindsamer, zu Herzen gehender Melodik eint. Ein Feuerwerk an subtilen den Emotionshaushalt der Protagonisten in alle Richtungen abschreitenden Arien und Ensembles (ein Gustostück das Quartett am Ende des ersten Aktes) lässt den Hörer aus dem Staunen nicht mehr herauskommen. Sergio Morabito merkt zur Musik im Bookletaufsatz erhellend an: „Jommellis Musik horcht nach innen, in die Seelen der Figuren hinein – etwas von dem wir annehmen, dass es erstmals in der Musik Mozarts realisiert sei (der im Uraufführungsjahr der Berenike 10 Jahre alt war). In Jommellis Arien und Ensembles ist die barocke Einheit des Affekts außer Kraft gesetzt zugunsten eines filigranen Reichtums an Farben und Zwischentönen. man könnte sagen: Seine Gestalten sind sich selber zum Rätsel geworden. Die tastende Suche nach der eigene Emotion und der des Partners tritt an die Stelle ihrer barocke Zurschaustellung. Wir dürfen Jommelli als den ersten Psychologen der Opernbühne im modernen Sinn bezeichnen.“

Der integralen, strichlosen Aufführung liegt eine Computertranskription der Partitur zugrunde, die Frieder Bernius vor 20 Jahren für eine konzertante Wiedergabe anfertigte. Was die motivisch und kontrapunktisch außerordentlich verdichteten Streicherstimmen angeht, hat der mit allen barocken Wassern gewaschene Dirigent Gabrielle Ferro versucht, den Klang mittels dreier kleiner Streichergruppen im Raum klanglich aufzufächern. Das Resultat begeistert, zumal Ferro ungemein spannungsgeladen nicht nur allen dynamischen, instrumentalen und vokalen Details nachspürt, sondern eine große dramaturgische Klammer findet, in der der Humanismus der Musik wie ein Licht über die gesamter Oper und deren Protagonisten strahlt.

Die überwiegend aus Hauskräften formierte Besetzung gibt ein intensiv eingespieltes Ensemble ab. Stimmlich ist sie nicht ganz einheitlich: Äußerst positiv fallen der markant kernige Tenor des Sebastian Kohlhepp als Lucio Vero und der mächtige, koloraturengewandte Mezzo von Sophie Marilley in der Hosenrolle des Vologeso auf. Leider ist der Sopran der Ana Durlovski (Berenice) trotz dramatischer Qualitäten (zu) eng geführt und in der Höhe scharf. Der Countertenor Igor Durlovski (Aniceto) wiederum hat mehr Luft als Kontur in der Stimme, und irritiert durch massive Brüche in die Basslage. Die übrigen Rollen sind mit Helene Schneidermann (Lucilla) und Catriona Smith (Flavio) adäquat besetzt.

Fazit: Eine ganz wichtige Ausgrabung zur Wiederentdeckung des großartigen Niccolo Jommelli in einer klugen und feinen Inszenierung. Das Wagnis wurde zurecht in der Opernwelt mit der Auszeichnung „Wiederentdeckung des Jahres 2015“ belohnt. Auch die klangliche Qualität ist ganz hervorragend und genügt – was bei Videoproduktionen selten der Fall ist – hohen audiophilen Ansprüchen.

Dr. Ingobert Waltenberger

 

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